Dienstag, 21. Juni 2016

Deutschland – ein Land des Familienbewusstseins? Ein Expertenblick auf Mecklenburg-Vorpommern


Mecklenburg-Vorpommern: Auch in strukturschwächeren
Regionen mit familienbewusster Personalpolitik punkten

(©berufundfamilie Service GmbH)
Gibt es bei der Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden Deutschlands? Mit welchen Ideen können Unternehmen in strukturschwächeren Regionen punkten?

Wir fragen Dr. Stefan Birk, Geschäftsführer des Arbeitslabors und Auditor der berufundfamilie, der vor Kurzem mit seiner Familie von München nach Schwerin umgesiedelt ist.


berufundfamilie: Sie sind gerade vom Süden in den Nordosten umgezogen. Gibt es denn Unterschiede beim Thema „Vereinbarkeit“ zwischen den Regionen?

Birk: Es ist – und das wissen wir jetzt aus eigener Erfahrung – im täglichen Leben genauso schwierig, alles unter einen Hut zu bekommen. Trotzdem fallen mir natürlich einige Dinge ins Auge, die hier anders sind. Zum Beispiel spürt man eine höhere Akzeptanz dafür, dass Frauen auch ganztägig arbeiten. Das hat man hier bei den eigenen Eltern beobachtet und findet es normal. Gerade in Bayern leidet der Ruf schon ein wenig, wenn die Kinder nicht mittags aus der Kita abgeholt werden. Und überhaupt: Hier in Mecklenburg-Vorpommern sind Ausstattung mit Ganztagesschulen bzw. Kitaplätzen sowie Öffnungszeiten ganz andere als im Süden. Und als Mann fällt mir noch etwas auf: Während meiner Elternzeit in Bayern war ich bei schulischen Veranstaltungen wie Sportfesten oder Ausflügen immer der einzige Mann. Hier sind wir an einem ganz normalen Vormittag manchmal in der Mehrheit! Insgesamt würde ich sagen, ist man hier etwas fortschrittlicher.

Gefahr für Unternehmen, ihr Wachstum zu gefährden 


berufundfamilie:
An sich ja gute Voraussetzungen für die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben. Ist es denn trotzdem wichtig für die Unternehmen, sich um Familienbewusstsein zu bemühen?

Birk: Aber selbstverständlich. Dass die Grundeinstellung der Leute und die staatlichen Einrichtungen passen, ist zwar eine wichtige Voraussetzung, aber auch die Unternehmen müssen sich um die Verbesserung der Situation bemühen. Sonst laufen sie Gefahr, ihr Wachstum zu gefährden, weil sie nicht attraktiv sind für neue, kreative Mitarbeiter.

berufundfamilie: Aber die Arbeitslosigkeit ist doch höher als im Rest der Republik?

Birk: Das ist richtig. Aber hier wie dort existiert ein geteilter Arbeitsmarkt. Auf der einen Seite unbestreitbar noch eine höhere Arbeitslosenquote als im Süden, aber auf der anderen Seite ein nicht zu übersehender Fachkräftemangel in nicht wenigen Branchen. In der aktuellen Unternehmensbefragung der IHKs in Mecklenburg-Vorpommern liegt der Fachkräftemangel erstmals auf Platz 1 der genannten Risiken fürs Geschäft.

Arbeitgeber in Mecklenburg-Vorpommern sehen Fachkräftemangel als größtes Geschäftsrisiko 


berufundfamilie:
Warum ist das so?

Birk: Ich würde da drei Gründe nennen: Erstens wachsen die Unternehmen hier in Mecklenburg-Vorpommern glücklicherweise recht ordentlich. Zweitens hat hier ja bereits durch den Fortzug der Vergangenheit ein gewisser Aderlass stattgefunden, der durch den positiven Zuzugssaldo der letzten Zeit nicht kompensiert wird. Und drittens wird deutlich, dass auch hier in den nächsten Jahren die demografische Entwicklung voll auf das Arbeitskräftepotenzial durchschlägt.

berufundfamilie: Also ist ihr Vorschlag, die Attraktivität durch eine Initiative für Familienbewusstsein zu steigern. So können die Unternehmen weiter wachsen und es siedeln sich auch neue attraktive Unternehmen an?

Birk: Exakt. Schauen Sie sich die Struktur der Unternehmen in Mecklenburg-Vorpommern an: Die meisten Unternehmen sind mittelständisch, es gibt nur wenige wirklich große Unternehmen. Keiner der großen Konzerne hat seinen Sitz in Mecklenburg-Vorpommern. Während große Unternehmen oft mit sündhaft teuren „Employer Branding“-Programmen auf sich aufmerksam machen oder einige Firmen im nahe gelegenen Hamburg zum Beispiel mit schicken Büros und Tischkicker zu punkten versuchen, ist das m. E. alles keine Option für die meisten Unternehmen in Mecklenburg-Vorpommern. Da muss man schon mit klugen Ideen und echten Inhalten gegenhalten.

Familienbewusste Personalpolitik contra Fachkräftemangel   


berufundfamilie:
Und was genau könnten die Unternehmen tun?

Birk: Man muss es den Mitarbeitern ermöglichen, ihre ganz individuelle Lebensqualität zu verbessern. Das kann man natürlich durch hohe Gehälter machen – also mit anderen Worten: Man zahlt „Schmerzensgeld“ für lange Pendelzeiten, unpraktische Arbeitszeiten, etc. Aber es ist nicht zu erwarten, dass die Gehälter hier in Mecklenburg-Vorpommern flächendeckend attraktiver gestaltet werden können als in den Metropolen.

Man kann aber auch direkter vorgehen – z. B. durch Maßnahmen zur Verbesserung des Familienbewusstseins. Was oftmals den Vorteil hat, gar nicht so teuer zu sein für das Unternehmen. Zum Beispiel kann man durch kluge organisatorische Lösungen zur Arbeitszeit oder zum Arbeitsort viel erreichen. Es muss eben nicht immer der berühmte „Betriebskindergarten“ sein. Und noch etwas sollte man beachten: Man darf das nicht im stillen Kämmerlein machen, sondern nach dem Motto vorgehen: „Tue Gutes und rede darüber!“ Das haben viele Unternehmen bereits verstanden und bewerben sich z. B. für das Siegel der berufundfamilie.

berufundfamilie: Also Familienbewusstsein als Antwort der regionalen Unternehmen auf die Verlockungen aus den großen Städten?

Birk: Warum nicht? Ich bin ja selbst ein gutes Beispiel. Ich habe in USA und in verschiedenen europäischen Ländern gearbeitet. Und eigentlich immer in Großstädten. Aber warum sollte ich deutlich höhere Lebenshaltungskosten in Kauf nehmen oder jeden Tag zwei bis drei Stunden pendeln, wenn ich hier in Mecklenburg-Vorpommern auf sehr familienbewusste Bedingungen stoße und so viel zusätzliche Lebensqualität habe?


Dr. Stefan Birk über Familien-
bewusstsein in Mecklenburg-
Vorpommern (©Dr. Stefan Birk)
Dr. Stefan Birk ist Experte für die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Privatleben. Er ist verheiratet mit einer niedergelassenen Hausärztin, hat drei Kinder.

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