Mittwoch, 13. September 2023

Change-Maker Klinikum Landkreis Tuttlingen: Das Selbstverständnis zum Thema Beruf und Familie ist ein anderes

Seit 2015 gestaltet das Klinikum Landkreis Tuttlingen seine familien- und lebensphasenbewusste Personalpolitik mit dem audit berufundfamilie (Quelle: Klinikum Landkreis Tuttlingen)

In dieser Ausgabe der Change-Maker-Interviews, die wir unter dem Dach des Jahresmottos „25 Jahre audit berufundfamilie – 25 Jahre Transformation“ führen, schauen wir in eine Branche, in der der Arbeitnehmendenmarkt sozusagen leergefegt ist: dem der Krankenhäuser und Kliniken. Den Herausforderungen bei der Gewinnung und Bindung von Mitarbeitenden begegnet die Klinikum Landkreis Tuttlingen gGmbH u.a. mithilfe des audit berufundfamilie. Das 1909 gegründete Klinikum ist ein Haus der Grund- und Regelversorgung mit 300 Betten. Träger ist der Landkreis Tuttlingen.

Oliver Butsch, Personaldirektor des Klinikums, gibt uns Auskunft über die konsequente Umsetzung der Ziele und Maßnahmen aus dem audit berufundfamilie und gewährt uns Einblicke in die gelebte Vereinbarkeitskultur, die wichtige Zutaten des personalpolitischen Erfolgsrezepts des Klinikums sind.


Die Klinikum Landkreis Tuttlingen gGmbH ist seit 2015 nach dem audit berufundfamilie zertifiziert. Welche Veränderungen haben seitdem auf Ihre Organisation eingewirkt?

Der Fachkräftemangel stellte und stellt uns immer wieder vor Herausforderungen. Wir bekommen zu spüren, dass Stellen schwerer zu besetzen sind – von einem deutlichen Personalmangel können wir aber nicht sprechen. Im Pflegebereich haben wir es sogar geschafft, seit dem Jahr 2018 60 zusätzliche VK-Stellen zu schaffen und zu besetzen.

Auch unsere Führungspositionen können wir seit einigen Jahren mit topausgebildeten Frauen und Männern besetzen. Der Frauenanteil unter den Führungskräften ist deutlich gestiegen.

Die Zertifizierung berufundfamilie ist seit 2015 in unserem Haus sehr präsent – und auch die Vereinbarkeitsbedarfe unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sich verändert.

Was uns sehr freut, ist, dass wir mittlerweile in der Region als ein Arbeitgeber wahrgenommen werden, der die Vereinbarkeit von Familie und Beruf lebt. Wenn jemand sich bei uns bewirbt, dann hat er oder sie das in der Regel schon einmal gehört. Eine unserer Chefärztinnen hat die Zertifizierung sogar bereits in ihrem Bewerbungsschreiben erwähnt.


Wie hat das audit als strategisches Managementinstrument Ihre Organisation dabei unterstützt, mit diesen Veränderungen Umgang zu finden?

Das Thema Beruf und Familie zieht sich durch das audit nachhaltig durch unser gesamtes Klinikum mit allen Bereichen und Hierarchien. Es rückt uns allen immer wieder in das Bewusstsein, gerade auch den Führungskräften. Es ist nicht nur Teil unseres Leitbildes, sondern der gesamten Unternehmensphilosophie. Diese Denkweise hilft uns als Orientierung im Umgang mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und damit verbundenen immer neuen Herausforderungen.


Wie haben sich in den acht audit-Jahren die Vereinbarkeitsbedarfe und -wünsche der Beschäftigten verändert?

Das Selbstverständnis zum Thema Beruf und Familie ist ein anderes. Mitarbeitende fordern die Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein. Viele kehren wesentlich früher aus der Elternzeit zurück – somit ist auch der Bedarf nach Kinderbetreuung gestiegen. Deshalb prüfen wir gerade, wie wir das bereits bestehende Betreuungsangebot in unserer klinikeigenen Kita erweitern können.

Gleichzeitig hat sich unter unseren Mitarbeitenden aber auch ein Verständnis im Sinne von Geben und Nehmen entwickelt: Viele Mitarbeitende achten bereits bei der Beantragung eines individuellen Arbeitszeitmodells darauf, eine Lösung zu finden, wie sie sich im Rahmen dieses Arbeitszeitmodells gut für die Abteilung und ihr Team einbringen können.


Inwieweit half das audit berufundfamilie dabei, diesem Wandel zu entsprechen?

Hier kommt wieder die angesprochene Durchdringung im Unternehmen und die Nachhaltigkeit in Spiel: Beschäftigte wissen, dass wir das Angebot haben – auch weil sie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen oder Führungskräfte als Beispiele haben. Und sie können sich auch in Zeiten des Wandels darauf verlassen, dass individuelle Möglichkeiten gefunden werden.


In welchem Handlungsfeld haben Sie bislang die größten/ deutlichsten Veränderungen dank des audit festgestellt?

Die Dienstmodelle und Schichtmodelle sind in der Pflege deutlich flexibler geworden. In den letzten Jahren hat sich ein Flex-Pool in der Pflege aufgebaut – gerade dieser hat das starre Dreischichtmodell aufgebrochen. Die Möglichkeiten für Pflegekräfte, individuelle Arbeitsmodelle zu finden, bei denen sie Beruf und Familie unter einen Hut bekommen, haben sich dadurch deutlich erweitert.


Ein Klinikbetrieb ist von der bereits von Ihnen erwähnten Schichtarbeit gekennzeichnet. Oftmals heißt es, dass Schichtarbeitende deutlich weniger bis gar nicht in den Genuss von vereinbarkeitsfördernden Angeboten kommen. Wie sieht das am Klinikum Landkreis Tuttlingen aus?

Natürlich haben wir weiterhin Schichtarbeit. Mitarbeitende, die nicht im starren Dreischichtmodell arbeiten können, haben aber mittlerweile ganz andere Möglichkeiten, um nicht ihre Zeit für die Familie um den Dienstplan herum jonglieren zu müssen. Sie können sich nämlich im Rahmen des bereits angesprochenen Flex-Pool Pflege den Dienstplan individuell selbst gestalten und nur die Schichten machen, die sie leisten können. Viele Elternteile arbeiten beispielsweise nur am Wochenende oder manchmal in der Nacht, wenn der Partner daheim ist und sich um die Kinder kümmern kann. Andere arbeiten nur Montag bis Freitag am Vormittag.

Hier gilt wieder das Stichwort Geben und Nehmen: Es ist schon eine Kunst, aus diesen vielen unterschiedlichen Bedarfen einen Dienstplan hinzubekommen und gleichzeitig eine gute Stimmung im Team zu behalten.


Die Ziele und Maßnahmen des audit berufundfamilie sind am Klinikum sehr stark mit dem betrieblichen Gesundheitsmanagement verknüpft. Wie wirkt beides zusammen?

Das BGM im Klinikum steht auf drei Säulen. Neben dem Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie dem Betrieblichen Eingliederungsmanagement spielt die Gesundheitsförderung und Prävention eine tragende Rolle: Hierzu gehören ganz besonders die Maßnahmen aus dem Bereich Vereinbarkeit von Familie und Beruf.


Von den gut 900 Beschäftigten sind über 700 weiblich. Wie wirkt sich das auf Ihre betriebliche Vereinbarkeitspolitik aus?


Sicherlich haben viele unserer Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie geholfen, dass wir in den letzten Jahren deutlich mehr Frauen als Führungskräfte gewinnen konnten – was für uns wichtig und richtig ist. Diese leben die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wiederrum den Mitarbeitenden ihrer Abteilung vor.

Und das ist nicht nur bei den Stationsleitungen so, sondern auch bei den Chefärztinnen und in der Klinikleitung. Während im Jahr 2016 nur Männer Teil der Klinikleitung waren und es nur männliche Chefärzte gab, konnten wir seitdem drei Chefärztinnen dazu gewinnen. In der Klinikleitung sind mittlerweile drei von fünf Mitgliedern weiblich.


U.a. werden Angebote zur Kinderbetreuung am Klinikum großgeschrieben. Auf welche Unterstützung können Ihre Mitarbeitenden hier setzen?

Wir haben eine klinikeigene Kita auf dem Klinikgelände mit 40 Kinderkrippen- und Kindergartenplätzen. Damit können wir unseren Mitarbeitenden eine Kinderbetreuung ohne Schließtage und mit langen Betreuungszeiten von 6.30 Uhr bis 17 Uhr bieten.


Gleichwenn die weiblichen Mitarbeitenden in der Überzahl sind, ist es Ihnen am Klinikum Landkreis Tuttlingen wichtig, die Gleichbehandlung der Beschäftigten über strukturelle und verbindliche Regelungen zu gewährleisten. Wie kann man sich das in der Praxis vorstellen?

Das ist für uns selbstverständlich. Nicht nur, wenn es um das Geschlecht geht – auch unabhängig von Herkunft, Alter, Hautfarbe, Weltanschauung, Religion, Behinderung oder sexueller Identität wird bei uns die Gleichstellung aktiv gefördert. Wir haben sie im Leitbild fest verankert.


Apropos „verbindliche Regelungen“: Sie haben eine DA Zeitwertkonto, eine DA Urlaub und eine DA Zeiterfassung. Erläutern Sie uns bitte beispielhaft das Arbeitszeitkontenmodell.

Durch das Zeitwertkonto kann man steuerfrei Überstunden ansparen und sich diese angesparte Zeit als Freizeit „ausbezahlen lassen“, wenn man sie braucht. Viele Mitarbeitende nutzen es beispielsweise in gewissen Lebensphasen, wie in der Familienzeit, zur Pflege von Angehörigen, vor der Rente oder als Zeit für Weiterbildungen oder Reisen. Das gilt selbstverständlich auch für Führungskräfte.


Gibt es bei Ihnen auch die Herausforderung des steigenden Altersdurchschnitts bei den Mitarbeitenden? Und wenn ja, wie gehen Sie damit um?

Nein, im Gegenteil – im Durchschnitt werden wir jünger. Insbesondere unser Pflegedienst als größte Berufsgruppe im Haus hat sich deutlich verjüngt. Unser Altersdurchschnitt ist in den letzten acht Jahren von 42,5 auf 40,8 Jahren gesunken.

Ein Grund dafür ist sicherlich, dass wir viel Wert auf die Ausbildung legen. In der Pflege ist sie unser wichtigstes Instrument zur Personalgewinnung. Jedes Jahr können wir frisch examinierte junge Pflegefachkräfte aus der Ausbildung auf unsere Stationen übernehmen.


Lassen Sie uns noch über die Führungskräfte sprechen. Wie schaffen Sie es, diese für die Umsetzung der Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben zu sensibilisieren, zu gewinnen und zu befähigen?

Unsere Führungskräfte haben erfahren, dass die Berücksichtigung und das „Vorleben“ der Vereinbarkeit von Familie und Beruf dazu führt, das Stellen besetzt werden können, die früher so nicht besetzt wurden.

Übrigens: Seit dem Jahr 2018 hat die Anzahl der Pflegekräfte an unserem Klinikum auch aufgrund gesetzlicher Regelungen deutlich zugenommen. Nicht nur, aber auch aufgrund der familienfreundlichen Angebote konnten wir 60 zusätzliche Vollzeit-Pflegestellen schaffen und mit Vollzeit- und Teilzeitkräften besetzen.


Und welche Angebote zur Steigerung der Work-Life-Balance gibt es für die Führungskräfte selbst?

Für Führungskräfte gibt es bei uns die gleichen Möglichkeiten zur Steigerung der Work-Life-Balance wie für alle anderen auch. Wir haben Stationsleitungen, die ihre Dienstplanung im Home-Office machen und ermöglichen in vielen Bereichen Teilzeit-Stellen oder eine 4-Tage Woche für Führungskräfte.


Was haben Sie im Rahmen des audit berufundfamilie noch vor?

Wir möchten eine vielfaltsgerechte Personalpolitik (Alter, ethnische Herkunft, Religion, soziale Herkunft, sexuelle Orientierung) etablieren. Die Belegschaft unserer Klinik wird vielfältiger. Auch unsere Angebote zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie müssen zu dieser Vielfalt passen.


Zum Schluss noch Ihre Einschätzung: Das audit berufundfamilie ist ein wirkungsvolles Steuerungstool für Transformationen, weil …

… es tatsächlich wirkt, sich in Personalgewinnung und Unternehmenskultur entfaltet
und sich nachhaltig und durch alle Schichten und Bereiche zieht.



Weitere Infos zu den familien- und lebensphasenbewussten Angeboten des Klinikums Landkreis Tuttlingen sind im Kurzporträt zur jüngsten – und mittlerweile dritten – Zertifizierung nach dem audit berufundfamilie benannt.

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