Freitag, 5. Juli 2019

Der Tag der Workaholics und die Frage nach dem vergifteten Betriebsklima

Workaholism – wenn Arbeit alles bestimmend und Vereinbarkeit ein Fremdwort ist  (©deathtothestockphoto.com)

Rund 71 % der Beschäftigten in Deutschland leisten nach eigenen Angaben regelmäßig unbezahlte Überstunden. Auf durchschnittlich 5,24 Stunden Mehrarbeit kommen wir laut Untersuchung des Personaldienstleisters ADP wöchentlich. Sind wir damit schon Workaholics? Und was bedeutet Workaholism für die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben sowie für das Betriebsklima? Ein Gespräch mit Silke Güttler, Leiterin Corporate Communications der berufundfamilie, am heutigen Tag der Workaholics.

Heute ist der Internationale Tag der Workaholics. Sinnvoll oder völlig unsinnig?

Aus kommunikativer Sicht finde ich Awarenesstage grundsätzlich sinnvoll. Sie sind einfach eine gute – wenn auch manchmal semineutrale – Plattform, über die sich Themen, die mehr Aufmerksamkeit brauchen, kommunizieren lassen. Und da wir jetzt drüber sprechen, ist ja schon ein Zweck erfüllt!

Man mag manche Aktions- und Awarenesstage belächeln, wie z.B. den Krümel-auf-der Tastatur-Tag. In den USA ist man da übrigens sehr kreativ. Aber der Tag der Workaholics hat ja durchaus einen ernsthaften Hintergrund: Laut kleiner-kalender.de ist der Tag der Workaholics „allen gewidmet, die ihr ganzes Leben mit Arbeit verbringen und selbst keine Feiertage oder arbeitsfreien Nächte kennen.“ Workaholism bedeutet Arbeitssucht – und diese ist ein ernstzunehmendes Krankheitsbild.

Sind Workaholics Vereinbarkeitsversager?

Das würde ich so nicht unterschreiben – zumindest nicht, wenn man die landläufige Verwendung des Begriffs Workaholic in Betracht zieht. Auch wenn es manchmal nur spaßig gemeint ist, werden schon Beschäftigte, die häufiger Überstunden machen, als Workaholics von ihren KollegInnen betitelt. Das muss dann aber noch nichts Krankhaftes haben.

Man mag allerdings bei jeder Ausformung von Workaholism denken, dass irgendetwas falsch läuft: dass Workaholics das Nichtarbeiten nicht schätzen, dass sie ihre Bestimmung nur in der Arbeit finden, dass sie – in der Folge – keine Familie und keine Freunde haben oder diese zumindest stark vernachlässigen. Mehrarbeit muss nicht unbedingt Workaholism sein. Da muss schon genauer hingeguckt werden. Ist es nur eine Phase, steckt dahinter ein Lebensentwurf? Was sind die beruflichen Aufgaben der Person? Was sind die Rahmenbedingungen? Gibt es genug Unterstützung?

Und was die Frage nach dem Vereinbarkeitsbedarf angeht: Unter Vereinbarkeit versteht nicht jeder Beschäftigte das gleiche. Vereinbarkeit sieht für jeden anders aus. Während der eine täglich eine gewisse Stundenzahl mit seiner Familie verbringen möchte, hat die/ der andere das Gefühl, Job und Privates gut vereinbaren zu können, wenn sie/ er ab und zu ein längeres Wochenende mit der/ dem Partner*in erlebt. Die Bedarfe an Vereinbarkeit sind so unterschiedlich wie die Beschäftigten selbst. Wenn man so will, ist der Typus Workaholic eine Ausprägung von Vielfalt in Organisationen. Allerdings gilt es wachsam zu sein, wann der Begriff Workaholic im engeren Sinne greift und auf ein krankhaftes Verhalten schließen lässt. Dann ist ohne Wenn und Aber Einhalt geboten.
Hier ist Achtsamkeit im Team und Handlungsbereitschaft der Führung gefragt.

Aber üben Workaholics nicht unwillkürlich Druck auf Kolleg*innen aus, die nicht ständig Überstunden schieben?

Sofern es innerhalb eines Teams unterschiedliche Typen wie vermeintliche Workaholics und sehr Freizeitorientierte gibt, ist natürlich die Gefahr von Miss- bis hin zu Unverständnis gegeben. Doch der Druck ist oft etwas gar nicht Reales, sondern etwas, was man meint wahrzunehmen. Wie in allen Lebenslagen hilft auch hier die Kommunikation. Was treibt den einzelnen an? Wo liegt gerade der Fokus – im Beruflichen, im Privaten? Warum fließen wohin die Energien? Soll das Team funktionieren, ist es unabdingbar, sich über aktuelle Vereinbarkeitsbedarfe und Arbeitsabläufe fortlaufend auszutauschen. Dazu gehört dann auch, Erwartungen offen zu legen: Erwartet der angebliche Workaholic etwa das gleiche von den anderen Teammitgliedern? Der Austausch ist wichtig, um die Dinge zu relativieren, um sich klar zu werden, was realer und nicht-realer Druck ist.

Bist Du ein Workaholic?

Die einen sagen so, die anderen sagen so… Ich mache durchaus Überstunden. Und es gibt ein Privatleben. Für mich haben Familie und soziale Kontakte sehr große Bedeutung. Puuh, noch einmal davon gekommen, was?!

Offen gestanden, bemerke ich immer wieder, wie sehr ich durch meine ersten Arbeitsjahre geprägt wurde. Ich bin sozusagen im Agenturleben groß geworden, in dem Überstunden weder finanziell ausgeglichen noch abgeglitten wurden. Aber die Workload war da. Da hat man einfach nicht so sehr auf die Uhr geschaut, sondern – wie alle anderen – Mehrarbeit geleistet. Ich bin zudem in einer Unternehmenskultur sozialisiert worden, in der Vereinbarkeit noch in den Kinderschuhen steckte. Später war ich jahrelang selbständig. Jetzt – bei der berufundfamilie – die Möglichkeit zu haben, z.B. Überstunden abzugleiten, empfinde ich als große Freiheit. Mit Blick auf meine berufliche Vergangenheit weiß ich das Angebot besonders zu schätzen. Und vermutlich ist mein Bedarf an Vereinbarkeitsangeboten mit dem Lebensalter und den privaten Entwicklungen auch gewachsen. Insofern reguliert sich die Workalholism-Gefahr bei mir wohl auf natürliche Weise.

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