Dienstag, 8. Februar 2022

Jobcenter Berlin Neukölln im Interview: Der differenzierte Vereinbarkeits-Fahrplan – „Darauf wollen und werden wir nicht mehr verzichten“

Beim Jobcenter Berlin Neukölln können über 900 Mitarbeitende von familien- und lebensphasenbewussten Angeboten profitieren.
(©Jobcenter Berlin Neukölln)

In unserer Interviewserie mit Vertreter*innen von Jobcentern, die das Zertifikat zum audit berufundfamilie tragen, geht es heute mit dem Jobcenter Berlin Neukölln weiter – und damit u.a. mit Themen wie Betriebliches Gesundheitsmanagement, Generationenvertrag, Teilzeitmanagement und Nachhaltigkeit der Vereinbarkeitspolitik.

Das Jobcenter Berlin Neukölln, das eine gemeinsame Einrichtung des Bezirksamtes Neukölln von Berlin und der Agentur für Arbeit Berlin Süd ist, gestaltet seit 2014 seine familien- und lebensphasenbewusste Personalpolitik mit dem audit berufundfamilie – und das aus absoluter Überzeugung. So heißt es in der Präambel zu Zielvereinbarung: „Die Auditierung trägt dazu bei, das Leitbild des Jobcenters Berlin Neukölln umzusetzen. Die Akzeptanz der Vielfalt von Lebensbedingungen und -entwürfen sowie die Umsetzung des gesetzlichen Gleichstellungs- und Gleichbehandlungsauftrags sind dabei wichtige Schwerpunkte.“

Inwieweit Zufriedenheit und Bindung an den Arbeitsplatz durch Vereinbarkeitsangebote erhöht und damit auch die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten erhalten wird, berichten Geschäftsführerin Dr. Dagmar Brendel und die Gleichstellungsbeauftragte Marina Polewka, die als Themenverantwortliche für das audit berufundfamilie fungiert, im Interview. Unsere Fragen beantworten sie gemeinsam.


Welche Ziele verfolgen Sie mit der Auditierung bzw. mittlerweile zweiten Re-Auditierung nach dem audit berufundfamilie?

Wir wollten und wollen familien- und lebensphasenbewusste Personalpolitik nicht nur als Worte gebrauchen, sondern uns bewusst tiefer und vor allem mit Taten in den praktischen Ausgestaltungsprozess begeben.

Etwa ein Drittel unserer Belegschaft ist lebensälter, zwei Drittel sind Frauen* – uns war klar, durch Abwarten oder Theorien kommen wir nicht zu Lösungen.


Wie eng sind diese Ziele mit den Aufgaben des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) verbunden?

Wir haben im Jobcenter mehrere Ansätze. Ein breites und regelmäßiges Programm bietet unser Gesundheitsmanagement. So gab es z.B. in den letzten sechs Monaten speziell für die Beschäftigten unseres Jobcenters:
  • 3-4 (digitale) Sportkurse im Monat
  • das Angebot von Kursen für Life Kinetik und Achtsamkeit
  • Vorträge zu Themen wie „Ergonomie am Arbeitsplatz“, „Älter werden“, „Rauchen/ Rauchentwöhnung“, „Inklusion und Resilienz“
Informationen (inkl. Vergünstigungen) für diverse Aktivitäten regionaler Anbieter in Wohnort- bzw. Arbeitswegnähe stehen darüber hinaus zur Verfügung. Individuell finden Gespräche mit einem Integrationsteam im Rahmen des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM, auf Basis des SGB IX) statt. Dort werden im geschützten Raum gesundheits- und leistungsfördernde Maßnahmen mit den Beschäftigten auf freiwilliger Basis besprochen.

Der Arbeitsschutzausschuss macht unter Beteiligung des Betriebsärztlichen Dienstes, der Fachkraft für Arbeitssicherheit und weiterer Akteure Arbeitsplatzbegehungen, schätzt Gefährdungsbeurteilungen ein, berät zu erforderlichen Maßnahmen, um Gesundheits- und Unfallrisiken zu minimieren.

In der Pandemie ist ein umfangreiches Hygiene- und Infektionsschutzkonzept erarbeitet und immer wieder aktualisiert worden – als umfassender Handlungsleitfaden für die Mitarbeiter*innen.

Beide Stränge, audit und BGM ergänzen sich. Für uns war wichtig, dass unsere Beschäftigten das komplette Paket verfügbar haben, auf das sie zugreifen und ggf. in der für sie passenden Version zusammenstellen können. Auch für Anregungen aus der Belegschaft sind wir offen.

Es geht eben nicht darum, starre Standardangebote oder Einmalaktionen zu haben, die dann im Einzelfall doch nicht passen oder wenig zum Mitmachen animieren.

Organisatorisch arbeitet die Gleichstellungsbeauftragte mit dem Gesundheitsmanagement in Form des Gesundheitszirkels eng zusammen, gehört zum BEM-Integrationsteam, zum Arbeitsschutzausschuss und so wird dieser Katalog an Maßnahmen möglich gemacht.


Inwiefern kann die Auditierung dazu beitragen, die Zielerreichung in der Erfüllung des gesetzlichen Auftrags des Jobcenters (gemäß SGB II) zu sichern?

Unsere Aufgabe im Bereich der Grundsicherung ist die Beratung, Vermittlung, arbeitsmarktliche Förderung und Leistungsgewährung für ca. 45.000 Leistungsberechtigte im Stadtbezirk Berlin-Neukölln. Das bedeutet verschiedene Schicksale, Lebenswege, Erfahrungen und Fähigkeiten, Unterstützungsbedarfe, auf die es einzugehen gilt. Dafür müssen wir nicht nur fachlich fit sein, sondern auch ein günstiges, leistungsförderndes Arbeitsumfeld schaffen. Im Alltag heißt das beispielsweise, Öffnungszeiten oder Zeiten für persönliche Beratungen mit individuellen Arbeitszeiterfordernissen durch Familie und/ oder Pflege zu koordinieren, physische und psychische Ausgleiche zum Berufsalltag zu schaffen, Empathie und kultursensibles Arbeiten zu fördern. Je breiter und stärker wir hier aufgestellt sind, unsere Beschäftigten eine faktische Unterstützung in Sachen Vereinbarkeit Beruf und Familie erhalten, desto besser gelingt uns die Erfüllung unseres gesetzlichen Auftrages.


Inwieweit leistet die Auditierung einen Beitrag zur Umsetzung der Familienpolitik und zum Generationenvertrag?

Die Auditierung hat uns an verschiedenen Stellen sensibilisiert und zum Handeln angeregt. Durch diesen Weg und Zertifizierungsprozess haben wir ganz konkret über
  • flexible Arbeitszeiten, Teilzeit
  • Tele- und Mobilarbeit
  • familienbewusste Besprechungs- und Terminorganisation
  • die Kooperation mit einem Pflegestützpunkt, mit Beratungsterminen vor Ort
  • Qualifizierungsangebote in Teilzeit und teilw. mit Kinderbetreuung
  • ständig aktuelle Informationen zum Thema Alter, Pflege, Schwangerschaft und Elternzeit, Wiedereinstieg ins Berufsleben
  • Aktivitäten im Gesundheitsmanagement
  • Einbeziehung der Beschäftigten in die Gestaltung, Ermöglichung individueller (Beratungs-) Gespräche
ein breites Maßnahmenbündel aufgelegt, was den Mitarbeiter*innen unseres Jobcenters zur Verfügung steht. Die Zertifizierung hat uns dabei gepusht und sie belegt, damit sind wir richtig unterwegs. Das macht uns nicht nur stolz, sondern dokumentiert nach innen und außen, wie wir unsere Personalverantwortung wahrnehmen.


Inwiefern fördert das audit berufundfamilie die Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden und trägt ggf. zu einem harmonischen Arbeitsalltag (auch im Umgang mit Kund*innen) bei?

Unsere Teams sind gemischt, junge und ältere Kolleg*innen mit und ohne Familienaufgaben aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturkreisen arbeiten eng zusammen. Wir beteiligen uns an der Ausbildung und stellen aber auch Beschäftigte ohne Jobcenter-Erfahrungen ein.

Einem so bunten Stadtbezirk wie Neukölln tut unser Beschäftigungs-Mix gut, weil wir durch die Personalzusammensetzung einen Querschnitt der Bewohner*innen repräsentieren. Damit sind automatisch Fragen der Organisation, der Haltungen, der Leistungs- und Teamorientierung für einen harmonischen Arbeitsalltag verbunden. Durch das audit berufundfamilie haben wir unseren Handlungsrahmen systematisiert, Transparenz darüber geschaffen und er dient uns regelmäßig als Leitplanke bei der Rekrutierung, Personalentwicklung sowie im Bereich Führung und Zusammenarbeit.

Als großes Berliner Jobcenter gewinnt dadurch unser Personalmanagement mit seiner Vielfalt an Qualität. Im Umgang mit Kund*innen zeigt sich dadurch ein stärkeres sprachliches, kulturelles, empathisches Kompetenzprofil, was unterschiedliche Lebenssituationen und Lebenshintergründe aufnimmt, um individuelle Integrations- sowie Förderstrategien zu vereinbaren und für jüngere, ältere, langzeitbeziehende Menschen – ggf. mit Flucht-/ Migrationshintergrund, multiplen Hemmnissen, gesundheitlichen Einschränkungen, Erziehungsaufgaben – im Sinne möglichst nachhaltiger, existenzsichernder Beschäftigung umzusetzen.


Welche Lösungen bieten Sie im Rahmen des Teilzeitmanagements – und damit im Umgang mit der steigenden Zahl von Mitarbeitenden, die in Teilzeit tätig sind?

Teilzeit ist bei uns seit langem möglich und so zur Normalität geworden, dass die Frage schon fast verblüffend ist. Es gibt sie in nahezu allen und sehr individuellen Konstellationen, auch bezogen auf den Arbeitsort. Sie wird unterstützt durch unsere flexible Arbeitszeit. Wenn es auf dem Weg zur Kita oder bei der Pflege mal etwas länger dauert, sitzt den Beschäftigten nicht gleich im Nacken „Ich komme (mal wieder) zu spät.“.

Es gibt keine Kernarbeitszeiten oder ähnliches, was ein individuelles Zeitmanagement auch bei einer Teilzeitbeschäftigung in hohem Maße begünstigt. Beliebt ist bei uns z.B. das sogenannte 9/10 Modell, mit dem bei relativ geringer Gehaltsreduzierung 25 zusätzliche freie Tage erworben werden.

Die technischen Systeme sind mit großer Zeitspanne von morgens bis abends verfügbar, so dass es dadurch fast keine Einschränkungen zur Arbeitszeitgestaltung gibt. Zudem hilft uns, dass wir Teilzeitanteile zusammenfassen können, so insgesamt ein Kapazitätsausgleich möglich ist, was die Akzeptanz erhöht. Das sind gute Grundlagen, um steigende Teilzeitbeschäftigungen zu tragen.


Wie sorgen Sie für eine konsequente Umsetzung und damit Nachhaltigkeit Ihrer Vereinbarkeitspolitik?

Da wir uns aus eigener Überzeugung der Auditierung gestellt haben, treiben wir uns hier also selbst. Dazu sind der Aufwand und die Reichweite zu groß, um dann mal eben festzustellen, es war eine „Eintagsfliege“.

An unseren wichtigen Führungsbesprechungen nimmt regelmäßig die Gleichstellungsbeauftragte teil. Der Arbeitskreis Gesundheit nutzt sie als Orientierung. Unser interner Qualifizierungsplan beinhaltet für Führungs- und Fachkräfte neben fachlichen Angeboten diverse soziale und Vereinbarkeitsthemen. In Rekrutierungs-/ Auswahlverfahren gehört der Punkt der Vereinbarkeitspolitik zum Eignungsstandard.

Wir haben im Alltag mit mehr als 900 Beschäftigten die ganze Bandbreite an Handlungsbedarfen zum bestmöglichen Personaleinsatz, die es zu managen gilt.

Nur so können wir als Haus insgesamt und stabil funktionieren.

Uns hat die Auditierung dazu angehalten, einen komplexen und systematischen Blick auf unsere lebensphasenorientierte Personalpolitik zu haben und vor allem zu überlegen, wie packen wir es an. Entstanden ist der differenzierte hauseigene Fahrplan, der für alle Beschäftigten nutzbar und Führungsaufgabe ist. Darauf wollen und werden wir nicht mehr verzichten.



Die nächste Ausgabe der Jobcenter-Interviews erscheint hier im Blog im März 2022.

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