Dienstag, 9. Mai 2023

Change-Maker Arbeitgeberverband HessenChemie: Vereinbarkeit als partnerschaftliches Geben und Nehmen

Bürogebäude des Arbeitgeberverbands HessenChemie (Arbeitgeberverband HessenChemie, Fotograf: Dirk Übele)

Die Vereinbarkeitsbedarfe der Beschäftigten werden immer individueller. Eine erfolgreiche familien- und lebensphasenbewusste Personalpolitik lebt daher von Kommunikation auf Augenhöhe und einer Kultur des partnerschaftlichen Gebens und Nehmens. Wie das audit berufundfamilie dabei unterstützt, die Ansprüche von Beschäftigten und Bewerber*innen im Blick zu behalten und damit auch den Wandel in Organisation zu gestalten, zeigt der Arbeitgeberverband Chemie und verwandte Industrien für das Land Hessen e.V. (HessenChemie) in diesem Change-Maker-Interview.


Wir feiern 25 Jahre audit berufundfamilie! Dieses Jubiläum nehmen wir zum Anlass für unsere Change-Maker-Interview-Reihe. In der heutigen Ausgabe blicken wir auf die familien- und lebensphasenbewusste Personalpolitik beim Arbeitgeberverband Chemie und verwandte Industrien für das Land Hessen e.V. (HessenChemie), der das Vereinbarkeitszertifikat bereits seit 17 Jahren trägt. Einblick gibt uns Nora Hummel-Lindner, Geschäftsführerin Recht und Personalpolitik bei HessenChemie, sowie langjähriges Mitglied des Kuratoriums der berufundfamilie Service GmbH.


Seit 2006 trägt der Arbeitgeberverband Chemie und verwandte Industrien für das Land Hessen e.V. (HessenChemie) das Zertifikat zum audit berufundfamilie. Welche Veränderungen haben seit der Erstauditierung auf Ihre Organisation eingewirkt (z.B. demographischer Wandel, Führungskräftedefizit, Personalmangel, Digitalisierung...)?

Im Rahmen des Erstauditierung lag unser Schwerpunkt auf der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, insbesondere für Familien mit kleinen Kindern. Unser familienpolitisches Engagement sollte uns als Arbeitgeber attraktiver machen, um neue Mitarbeiter*innen zu gewinnen und diese auch in Zeiten der Familiengründung im „aktiven“ Arbeitsverhältnis zu halten. Unser Ziel war es, Anreize zu schaffen, die familienbedingten Auszeiten ohne Berufstätigkeit nach der Geburt von Kindern möglichst unter zwei Jahren zu halten. Denn wir sind Dienstleister und unsere Mitarbeiter*innen „Wissensarbeiter“, d.h. ein kompletter Ausstieg z.B. aus der Rechtsberatung und Prozessvertretung für mehr als zwei Jahre macht den Wiedereinstieg schwierig. Umgekehrt ist der Wiedereinstieg umso leichter, je kürzer die vorherige Unterbrechung war.

Aufgrund der demografischen Entwicklung, des Fachkräftemangels, des Trends zur Individualisierung und des veränderten Selbstverständnisses haben wir uns hier in der internen Diskussion stetig weiterentwickelt. Vor dem Hintergrund „Kinder hat nicht jeder - Eltern schon“ haben wir uns z.B. mit den Themen Elternpflege und Gesundheitsmanagement beschäftigt. Wir wollen den Veränderungen der Arbeitswelt kontinuierlich Rechnung tragen und insgesamt ein lebensphasenorientiertes Arbeiten ermöglichen. Um allen Beschäftigten eine gute Work-Life-Balance bieten zu können und alle unabhängig von ihrem Familienstand vom audit profitieren zu lassen, haben wir unseren Familienbegriff kontinuierlich weiterentwickelt. Mit Corona und dem Digitalisierungsschub kam eine weitere Dimension hinzu: die Flexibilisierung des Arbeitsortes. Zwar hatten viele Beschäftigte bereits vor Corona die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, jedoch nicht in dem zeitlichen Umfang, wie es heute erwartet wird.


Wie hat das audit berufundfamilie als strategisches Managementinstrument Ihre Organisation dabei unterstützt, mit diesen Veränderungen Umgang zu finden?

Das audit berufundfamilie ist ein sehr wertvolles und geeignetes Instrument, um unsere personalpolitische Strategie regelmäßig zu reflektieren. Wir können damit prüfen, ob wir auf dem richtigen Weg sind und welche Aspekte wir vielleicht noch nicht berücksichtigt haben. Als Arbeitgeberverband und Interessenvertretung unserer Branche sind wir auch ein „Trendradar“ für unsere Mitgliedsunternehmen. Unser Ansatz: Was wir unseren Mitgliedsunternehmen empfehlen, müssen wir selbst ausprobiert und für gut befunden haben.


In welchen personalpolitischen Handlungsfeldern hat das audit bislang die größten/ deutlichsten Veränderungen bewirkt?

Die deutlichsten Veränderungen betrafen die Themen Arbeitszeit und Arbeitsort, in den ersten Jahren aber auch das Handlungsfeld Führung, um dorthin zu gelangen, wo wir heute stehen:

Unsere Stärken sind moderne Arbeitsbedingungen, Flexibilität bei Arbeitszeit und Arbeitsort mit hoher Eigenverantwortung der Teams und eine „mitarbeiterorientierte Kultur des Ermöglichens“ durch Führungskräfte und Teams. Und das wollen wir weiter fördern. Denn HessenChemie ist ein innovativer Arbeitgeber, der sowohl nach innen (sichtbar in der Motivation und Bindung der Mitarbeiter*innen als auch nach außen (für qualifizierte Bewerber*innen) flexible und moderne Arbeitsbedingungen bietet.


Wie haben sich seit dem Einstieg ins audit die Vereinbarkeitsbedarfe und -wünsche der Beschäftigten bei HessenChemie verändert ?

Heute erwarten eigentlich alle Mitarbeitenden, also jede*r Mitarbeiter*in - auch Berufseinsteiger nach dem Studium - eine gute Work-Life-Balance und möchten von ihrem Arbeitgeber mit ihren individuellen Bedürfnissen gesehen werden. Aus diesem Grund haben wir im Laufe der Jahre auch unseren Familienbegriff erweitert.

Wir stellen heute einen verstärkten Wunsch nach Flexibilisierung und sehr individuellen Lösungen fest. Das hat auch mit dem veränderten Selbstverständnis zu tun. Es geht um Kommunikation auf Augenhöhe und um Mitgestaltung. Viele individuelle Lösungen – gerade in einer so kleinen Organisation wie der unseren – können aber nur funktionieren, wenn die Teams und die Führungskräfte dahinterstehen. In diesem Sinne haben wir den Trialog-Gedanken“ bei uns eingeführt und nutzen ihn regelmäßig im internen Aushandlungsprozess für individuelle Lösungen.


Inwieweit half das audit berufundfamilie dabei, diesem Wandel zu entsprechen?


Dieses strukturierte Vorgehen und der damit verbundene wiederkehrende Diskussions- und Überprüfungsprozess innerhalb der Geschäftsführung, aber auch der Austausch mit den Mitarbeitenden ist ein sehr wertvoller Prozess. Dieser wird seit 2006 professionell durch unsere Auditorin Christine Schönberg begleitet. So ist es uns gemeinsam gelungen, alle Beteiligten in dem Veränderungsprozess mitzunehmen, unsere Organisation zu entwickeln und immer auch neue Trends aufzugreifen.


Sie persönlich sind langjähriges Mitglied im Kuratorium der berufundfamilie Service GmbH. Was hat Sie dazu bewogen, in diesem Gremium mitzuwirken?


Wir sind Arbeitgebervertreter und Sozialpartner. In unserer Branche gibt es beispielsweise seit 2006 eine außertarifliche Sozialpartnervereinbarung mit Grundsätzen für eine chancengleiche und familienbewusste Personalpolitik. Als Sozialpartner verstehen wir uns als Multiplikatoren gegenüber Politik und Wirtschaft, unterstützen aber auch die Betriebsparteien bei der Umsetzung mit Beratung, Handlungshilfen, Praxisbeispielen und organisieren den Erfahrungsaustausch. All dies kann ich in die Arbeit im Kuratorium einbringen.

Darüber hinaus war ich seit 2006 als Personalleiterin in unserer eigenen Organisation für alle Auditierungen und die Umsetzung der Vereinbarungen verantwortlich, so dass ich auch meine eigenen operativen und ganz praktischen Erfahrungen der letzten 17 Jahre einbringen kann.
 

Arbeitgeber legen mittlerweile viel Wert auf eine familien- und lebensphasenbewusste Personalpolitik. Wie schätzen Sie den Einfluss des audit berufundfamilie auf diese Entwicklung ein?


Durchweg positiv. Das audit ist in der Öffentlichkeit, der Wirtschaft und der Politik bekannt und anerkannt. Im Laufe der Jahre haben sich immer mehr Unternehmen freiwillig dem audit unterzogen und im Rahmen ihres Corporate Brandings und der Mitarbeitendenzufriedenheit und -bindung davon profitiert.


Vereinbarkeit ist als Thema in der Arbeitswelt angekommen. Viele Arbeitgeber widmen sich auf unterschiedlichste Art der Förderung der Work-Life-Balance ihrer Beschäftigten. Welchen besonderen Nutzen und ggf. welche Vorteile sehen Sie in dem Managementinstrument audit berufundfamilie hinsichtlich der Gestaltung einer familien- und lebensphasenbewussten Personalpolitik?


Das audit berufundfamilie ist ein guter Türöffner. Mit dem Zertifikat, das auch bei Bewerber*innen bekannt ist, kann bereits bei Stellenausschreibungen und im Rekrutierungsprozess auf eine lebensphasenbewusste Personalpolitik hingewiesen werden. Es ist somit auch ein hervorragendes Marketinginstrument.
Als strategisches Managementinstrument ist das audit darüber hinaus ein wertvolles Werkzeug, um den Wandel in der Organisation zu gestalten und die Personalpolitik kontinuierlich weiterzuentwickeln bzw. den Status quo regelmäßig zu hinterfragen.
 

Schauen wir wieder auf die vereinbarkeitsfördernden Angebote bei HessenChemie: Sie haben ein hybrides Arbeitsmodell eingeführt, in dessen Zentrum neben der Flexibilität in beide Richtungen auch der Grundsatz „Business First“ steht. Können Sie uns das genauer erläutern?

Gerne. Unser Ziel ist es, durch die räumliche Flexibilisierung der Arbeitsorganisation ein attraktives Arbeitsumfeld zu schaffen, das eine individuelle Lebensgestaltung sowie eine bessere Vereinbarkeit von Familie/Privatleben und Beruf ermöglicht. Diese Flexibilität soll ausdrücklich nicht nur Kolleg*innen mit Familienpflichten zugutekommen, sondern allen Beschäftigten. Gleichzeitig haben wir als „Dienstleister“ immer auch die Organisation, d.h. die Erwartungen und Bedürfnisse unserer Mitgliedsunternehmen („Kunden“) im Blick. Dies erfordert Vertrauen, eine Kultur der Offenheit, ein Grundverständnis von Fairness und eine gewisse Konfliktfähigkeit im Aushandlungsprozess.

In unserem hybriden Arbeitsmodell spielen der HessenChemie Campus und das Regionalbüro Nordhessen weiterhin eine entscheidende Rolle. Das sind sehr attraktive Orte der Begegnung und Zusammenarbeit für Mitarbeiter*innen, Kunden sowie mit unseren externen Partnern. Sie bleiben damit zentrale Orte des gemeinsamen Arbeitens. Der ideale individuelle Mix aus Präsenztagen und mobilen Arbeitstagen ergibt sich aus einer guten Balance dieser beiden Prinzipien und soll von den Führungskräften unterstützt und von den Mitarbeitenden mitverantwortet und selbst gesteuert werden. Im Mittelpunkt dieses neuen Arbeitsmodells stehen neben der Variabilität und Flexibilität in beide Richtungen die Ergebnisorientierung und das Prinzip „Business first“. Findet beispielsweise eine Veranstaltung oder eine Besprechung auf dem Campus statt oder ist ein Gerichtstermin wahrzunehmen, hat dies Vorrang vor mobiler Arbeit. Das heißt, die an diesem Tag zu erledigende Aufgabe „bestimmt“ den Arbeitsort. Wir sehen in diesem kombinierten Arbeitsmodell einen wichtigen Baustein, um als Arbeitgeber für die Mitarbeiter*innen von heute und morgen attraktiv zu bleiben.


Vereinbarkeit kann auch zur Fairness-Frage werden. Insbesondere dann, wenn Beschäftigte ohne Familienpflichten zu stark belastet werden – durch erhöhtes Arbeitspensum bzw. Vertretung von Kolleg*innen, die aufgrund von familiären Pflichten ausfallen oder regulär in geringerem Umfang tätig sind. Wie gehen Sie bei HessenChemie damit um?

Das ist ein ganz wichtiger Aspekt – gerade in Zeiten des Fachkräftemangels. Es gelingt uns zum Beispiel nicht, befristet eingestellte Mitarbeiter*innen zu finden, die Elternzeiten vertreten. Dann springt das Team ein. Es ist uns wichtig, die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben für alle Mitarbeiter*innen so weit wie möglich zu fördern. Dabei setzen wir auf ein partnerschaftliches Geben und Nehmen – d.h. wir erwarten von allen beides, wenn auch in unterschiedlichen Phasen und zu unterschiedlichen Zeiten. Wir nehmen – wo immer möglich – Rücksicht auf die aktuelle Lebenssituation der einzelnen Mitarbeiter*innen. Das ist uns bisher sehr gut gelungen und soll auch so bleiben. Das bedeutet aber manchmal auch, dass verschiedene Interessen ausbalanciert werden müssen: die des Verbandes, der zu erfüllenden Aufgaben, die des Teams, das die Flexibilität zum großen Teil erst möglich macht, und die des Einzelnen, der einen akuten Wunsch oder Bedarf hat.


Um sicherzustellen, dass die Beschäftigten auch wissen, von welchen konkreten Vereinbarkeitsmaßnahmen sie profitieren können, bedarf es einer stetigen Kommunikation. Wie stellen sie diese bei HessenChemie sicher?

Selbstverständlich stellen wir unsere Maßnahmen neuen Mitarbeitenden sowohl im Recruiting-Prozess als auch im Onboarding individuell vor. Damit wir aber auch die bestehenden Mitarbeiter*innen nicht vergessen, die gerade keinen persönlichen Anlass haben oder von sich aus einen Bedarf äußern, haben wir das Thema Work-Life-Balance auch im jährlichen Mitarbeitergespräch fest verankert und sprechen aktuelle Themen z.B. auch in Mitarbeiterversammlungen an.


Was haben Sie im Rahmen des audit berufundfamilie noch vor?

Die drei Perspektiven Verband, Aufgabe, Team und Individuum nehmen wir weiterhin gezielt in den Blick, um wie bisher ein faires Geben und Nehmen zu leben. Für die HessenChemie als familienbewusster Arbeitgeberverband ist das Thema Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben ein fester Bestandteil unserer Personalpolitik. Und das soll auch so bleiben. Leistung, Offenheit, Vertrauen und Kollegialität sind auch in Zukunft unsere Leitmotive. Und mal sehen, was die nächste Zeit noch so bringt!


Zum Schluss, Ihre Einschätzung bitte: Das audit berufundfamilie ist ein wirkungsvolles Steuerungstool für Transformationen, weil …


...es ein strukturiertes Verfahren ist, verbunden mit wiederkehrenden wertvollen internen Diskussions- und Überprüfungsprozessen.

Wenn Sie mehr über die Vereinbarkeitsmaßnahmen bei HessenChemie erfahren möchten, schauen Sie in das Kurzporträt zur Zertifizierung mit einer Auswahl an Maßnahmen.





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