Gestern (15.06.2023) fand in Frankfurt a.M. das Netzwerktreffen der hessischen Initiative „Beruf und Pflege vereinbaren“ statt, das alle Teilnehmenden in Feierlaune versetzte. Es dürfen nämlich 10 Jahre Initiative zelebriert werden. Aus diesem Anlass blickte unser Geschäftsführer im Rahmen des Jubiläumsnetzwerktreffens auf die Entwicklung des Themenfelds der pflegebewussten Personalpolitik. Hier einige Auszüge.
Die bedenkliche Nachricht vorweg: In 20 Jahren hat sich die Zahl der Pflegebedürftigen verdoppelt. Waren es zu Ende 1999 gut 2 Mio. Menschen in Deutschland, die offiziell Unterstützung benötigten, so lag die Zahl der Personen mit Pflegebedarf Ende 2019 laut Statistischem Bundesamt bei 4,1 Mio. Im Vergleich dazu gibt es in Deutschland nur 3,2 Mio. Kinder im Alter unter 3 Jahren.
Und die Pflegebedürftigen werden mehrheitlich von ihren Angehörigen versorgt. Vier von fünf wurden zu Hause gepflegt – 56% aller Pflegebedürftigen überwiegend durch Angehörige und weitere 24% von Angehörigen zusammen mit ambulanten Pflege-/ Betreuungsdiensten.
Diese Angehörigen haben vielfach die Pflegeaufgaben mit ihren beruflichen Aufgaben zu vereinbaren. Laut einer Erhebung aus dem Jahr 2015 pflegen 6% der Bevölkerung im Erwerbsalter zw. 16 und 64 Jahren eine*n Angehörige*n.[1] Vor dem Hintergrund, dass jede*r Beschäftigte für die private Pflege 13,3 Stunden pro Woche durchschnittlich aufwendet, verwundert es nicht, dass 71% der pflegenden Beschäftigten von zeitlichen Vereinbarkeitsproblemen berichten – 29% haben diese sogar oft bis sehr häufig.[2]
Das hat Folgen. Wie drastisch diese sind, zeigen Zahlen aus dem Sozio-ökonomischen Panel, die das DIW 2022 präsentierte[3]: 49% aller Pflegenden, die nicht mehr in Vollzeit arbeiten, reduzierten ihre Arbeitszeit wegen Pflege. Frauen nutzen Frühverrentung, um mehr Pflege zu leisten. Jede*r fünfte Pflegende ist armutsgefährdet. Bei den Frauen ist es sogar jede vierte.
Wenn sich Beschäftigte dies finanziell leisten können, steigen sie – zumindest zeitweise – für die Betreuung der*des Pflegebedürftigen sogar ganz aus ihrem Job aus.
Der Ruf nach einer pflegebewussten Personalpolitik ist aber nicht nur bei den pflegenden Beschäftigten groß. Auch auf Seiten der Arbeitgeber ist das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Pflege aus mehreren Gründen angezeigt: Es geht darum, Know-how zu halten und ggf. sogar die Workforce mittels einer pflegebewussten Personalpolitik zu stärken. Dabei muss bedacht werden, dass Absentismus von Pflegenden, eine erhöhte Krankenquote, (temporäre) Fluktuation, eine Reduzierung der Stundenzahl und auch der Zwang zum Präsentismus in den Organisationen negative Auswirkungen haben. Ein mangelndes Unterstützungsangebot für pflegende Mitarbeitende hätte ganz konkrete finanzielle Auswirkungen. So berechnete das Forschungszentrum Familienbewusste Personalpolitik (FFP) bereits in 2011 Folgekosten mangelnder Vereinbarkeit in Höhe von 14.154,20 EUR jährlich
pro pflegender*pflegendem Beschäftigten. In Summe kamen laut der Kalkulation schon damals 18,94 Milliarden Euro jährlich deutschlandweit pro Jahr zusammen.[4]
Pflege ist als personalpolitisches Thema heute gesetzt
Der Blick in die Organisationen zeigt, dass sie sich noch nicht lange intensiv mit der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege auseinandersetzen. Eine von der berufundfamilie gGmbH 2011 in Auftrag gegebene und von der GfK durchgeführte repräsentative Befragung von Personalentscheider*innen legte offen, dass Pflege vor gut 10 Jahren noch einem Tabuthema nahekam.[5] 62% der befragten Personalentscheider*innen hatten sich bis 2011 noch nicht mit dem Thema „Vereinbarkeit von Beruf und Pflege” im Unternehmen beschäftigt. Nur 29% kannten betriebliche Angebote und Maßnahmen. Von denen, die benannt werden konnten, waren es vor allem: flexible Arbeitszeitmodelle, Teilzeitarbeit, Pflegezeit, Arbeitszeitkonten und Heimarbeitsplatz.
In der drei Jahre später durchgeführten Befragung zeigte sich immerhin Bewegung. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer pflegebewussten Personalpolitik war gestiegen, aber: 84% der Arbeitgeber sagten, sie hätten Schwierigkeiten beim Einstieg in das Thema, weil Praxishilfen fehlten. 80% der Arbeitgeber meinten, dass betriebliche Angebote zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege mit einem hohen organisatorischen Aufwand verbunden seien. Ebenfalls 80% befürchteten, dass diese zudem zu kostenintensiv seien.
Um Organisationen beim Einstieg in die sowie den Auf- und Ausbau der pflegebewussten Personalpolitik zu unterstützen, entwickelte die berufundfamilie damals direkt den so genannten Stufenplan „Beruf und Pflege“, von dem es übrigens eine „hessische Variante“ gibt, die Mitgliedern des Netzwerks der Initiative „Beruf und Pflege vereinbaren“ zur Verfügung gestellt wird. Er listet Maßnahmenbeispiele, die in den wesentlichen personalpolitischen Handlungsfeldern ergriffen von Arbeitgebern werden können, um ihren pflegenden Beschäftigten unter die Arme zu greifen. Die Lösungen sind dabei auf drei Vertiefungsstufen verteilt, so dass Organisationen, die einsteigen möchten in das Aufgabenfeld, eine Anleitung bekommen, genauso wie jene, die bereits im Themenfeld aktiv sind. Inkludiert sind dabei Ideen zur intensiven Kommunikation mit den Beschäftigten zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Ebenfalls zu finden sind beispielsweise Maßnahmen, die auf eine Flexibilisierung der Arbeitszeit, -organisation und des Arbeitsorts einzahlen.
Denn all das wünschen sich pflegende Beschäftigte. Sie fragen sowohl Beratung zu entlastenden Angeboten nach als auch Sonderurlaub, kurzfristige Freistellungen, variierbare Arbeitszeiten oder auch Home-Office.[6]
Nach dem audit berufundfamilie oder audit familiengerechte hochschule zertifizierte Organisationen kommen diesen Wünschen heute ganz gezielt nach. Pflege ist ein fester thematischer Bestandteil der Auditierungen. In der systematischen Auseinandersetzung werden sie – ob Unternehmen, Institutionen oder Hochschulen – auch an eine der größten Herausforderungen herangeführt: mit den individuellen Vereinbarkeitswünschen der Beschäftigten bzw. Studierenden Umgang zu finden. Denn: Die Individualisierung hat Einzug in die Personalpolitik gehalten und zeigt sich zunehmend deutlicher in den Anfragen nach passgenauen Angeboten. Im Rahmen einer pflegebewussten Personalpolitik werden damit Organisationen noch stärker gefordert sein, das Pflegesetting mit den beruflichen Anforderungen und den aus dem Lebensentwurf bzw. Lebensstil der*des jeweiligen Beschäftigten resultierenden individuellen Vorstellungen in Einklang zu bringen. So kann sich beispielsweise das Spektrum am Vereinbarkeitslösungen von denjenigen, die die Pflege im eigenen Haushalt mit Unterstützung eines Pflegediensts bewerkstelligen, aber hauptverantwortlich tragen, gleichzeitig zeitlich und örtlich flexibel arbeiten können sowie sich mehr Zeit für die Pflege wünschen, deutlich unterscheiden von den Angeboten, die Mitarbeitende passend empfinden, die auf Distanz pflegen, dabei eine geteilte Verantwortung tragen, allerdings beruflich an Servicezeiten gebunden sind und eher Unterstützung bei der Vermittlung von Tagespflegeeinrichtungen, Einkaufshilfen oder ähnlichem suchen.
Pflegebewusstsein gehört für Organisationen nicht nur zum guten personalpolitischen Ton. Es ist unabdingbar – menschlich gesehen und auch betriebswirtschaftlich. Zahlreiche Beispiele aus dem Netzwerk der hessischen Initiative „Beruf und Pflege vereinbaren“ zeugen davon, dass die Gestaltung von Angeboten zur „Vereinbarkeit von Beruf und Pflege“ machbar ist – ob niederschwellige Lösungen oder umfassende Maßnahmenpakete. Was in jedem Fall zählt, ist eine Kultur der Offenheit für die Herausforderungen der pflegenden Beschäftigten.
[1] ZQP-THEMENREPORT, Vereinbarkeit von Beruf und Pflege, 2016, https://www.zqp.de/wp-content/uploads/Report_Vereinbarkeit_Beruf_Pflege_Pflegende_Angehoerige.pdf
[2] DGB-Index Gute Arbeit 2017, https://www.dgb.de/themen/++co++dde051f8-0a80-11e8-a822-52540088cada; Befragung von 4.731 abhängig Beschäftigten (ohne Auszubildende)
[3] DIW, Sozio-ökonomisches Panel Auswertung 2022; https://www.diw.de/de/diw_01.c.803087.de/publikationen/wochenberichte/2020_46_1/bessere_vereinbarkeit_von_beruf_und_pflege_kann_zielkonflikt_zwischen_renten-_und_pflegepolitik_loesen.html
[4] Forschungszentrum Familienbewusste Personalpolitik (FFP), Betriebliche Folgekosten mangelnder Vereinbarkeit von Beruf und Pflege, 2011, https://www.ffp.de/files/dokumente/2011/factsheet_folgekosten-pflege.pdf
[5] GfK in Kooperation mit berufundfamilie gGmbH, Unternehmensbefragung zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege, 2011
[6] Verband Pflegehilfe, FAU Erlangen-Nürnberg, Studienbericht, Belastung von pflegenden Angehörigen, 2019, https://static.pflegehilfe.org/press/studie-belastung-pflegender-angehoeriger-vollstaendige-studie.pdf
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen