Nicht zu unterschätzen: Mögliche Benachteiligungen von Beschäftigten, die pflegen (Quelle: Cassidy Phillips on Unsplash) |
Wir freuen uns über den folgenden Gastbeitrag vom Bildungswerk der Hessischen Wirtschaft e.V., der seit 2013 einer unserer Partner in der Hessischen Initiative „Beruf und Pflege vereinbaren“ ist. Und in diesem Artikel des BWHW geht es auch um einen Aspekt der Pflege – und zwar einem durchaus brisanten: der Diskriminierung von pflegenden Beschäftigten in ihrem Arbeitsumfeld. Arbeitgeber, die ihren Sitz in Hessen haben und sich gegen Benachteiligungen pflegender Mitarbeitender engagieren möchten, können mit der Unterzeichnung der Charta zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege einen ersten wichtigen Schritt tun – und das noch in diesem Jahr. Mehr dazu ebenfalls in diesem Beitrag.
Was erleben Angestellte, wenn sie neben ihrer Arbeit zusätzlich in der Familie Fürsorgepflichten übernehmen müssen? Wie ergeht es Caregivern am Arbeitsplatz bei Schwangerschaft, Elternzeit oder der Pflege von Angehörigen? Dies sind die Kontexte, die die Antidiskriminierungsstelle des Bundes unter die Lupe nahm.
Für die im Mai 2022 veröffentlichte Studie zu Diskriminierungserfahrungen von fürsorgenden Erwerbstätigen wurden 2.500 Eltern mit Kindern unter sieben Jahren sowie 504 Personen, die Angehörige pflegen, befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass Diskriminierungserfahrungen am Arbeitsplatz wegen Fürsorgeleistungen für Kinder oder pflegebedürftige Angehörige weit verbreitet sind.
Pflegende Angehörige standen in der Vergangenheit bei Fragen der Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit als Eltern mit ihren Kinderbetreuungsaufgaben. Aufgrund der Altersstruktur unserer Bevölkerung und mit Blick auf die Pflegestatistik hat die Studie daher pflegende Erwerbstätige bewusst mit aufgenommen. 2007 wurden noch 68 % der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt; 2017 waren es schon 76 %, Tendenz steigend. Außerdem gehen die Autor*innen davon aus, dass Pflegeaufgaben häufig einem Tabu unterliegen und ein offener Dialog am Arbeitsplatz noch selten stattfindet.
Ebenfalls vor diesem Hintergrund wurde übrigens in Hessen bereits 2013 unter Beteiligung der berufundfamilie Service GmbH die Initiative „Beruf und Pflege vereinbaren“ ins Leben gerufen (s.u.).
Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Elternpflichten sind der Studie nach immer noch am weitesten verbreitet. Besonders die Rückkehr an den Arbeitsplatz nach der Elternzeit ist eine sensible Phase. Fast zwei Drittel, 62 % der Eltern, machen in dem Zeitraum negative Erfahrungen, die Mütter mit 69 % gegenüber Vätern mit 48 % deutlich mehr. Auch schon während der Schwangerschaft geben 56 % der Befragten Eltern an, Diskriminierung erlebt zu haben (Mütter 72 %, Väter 44 %).
Aber auch unter den pflegenden Angehörigen berichten mit 48 % fast die Hälfte von Diskriminierungserfahrungen am Arbeitsplatz. Interessanterweise fühlen sich in vielen Bereichen die Männer stärker betroffen als die Frauen. Zum Beispiel gaben 18 % der befragten Männer und 12 % der Frauen an, dass ihre Kolleg*innen ihnen weniger zugetraut haben. 17 % der Männer gegenüber 15 % der Frauen beklagen zudem Gehaltseinbußen.
Eine Erklärung für diese Geschlechterdifferenz sehen die Autor*innen in den klassischen Rollenzuweisungen, wonach Fürsorgearbeit noch immer dem männlichen Rollenbild widerspricht. Ein weiterer Zusammenhang könnte in der höheren Erwerbstätigkeit unter pflegenden Männern liegen. Während die häusliche Pflege mehrheitlich in Frauenhand ist, und 30 % der Pflegenden bereits in Rente ist, arbeiten weitere 30 % in Vollzeit, und in dieser Gruppe sind Männer deutlich stärker vertreten als Frauen. Insofern könnten Konflikte am Arbeitsplatz für Männer eine größere Rolle spielen.
Die konkrete Diskriminierung, die Caregiver erleben, wird in der Studie unterteilt nach Formen sozialer Herabwürdigung und Formen materieller Benachteiligung.
Soziale Herabwürdigung erleben Caregiver zum Beispiel durch die Erfahrung, dass Vorgesetzte oder Kolleg*innen ihnen weniger zutrauen, dass ihnen wichtige Informationen oder Entscheidungen vorenthalten werden, dass bei der Terminierung von Besprechungen keine Rücksicht genommen wird, bis hin zu Mobbing-Erfahrungen.
Zu den materiellen Benachteiligungen zählen beispielsweise die Zuteilung anspruchsloser oder sinnloser Aufgaben, schlechtere Leistungsbewertung oder das Ausbleiben von Gehaltserhöhungen. Das kann sogar bis zum Arbeitsplatzverlust gehen. „Pflege von Angehörigen macht arm“ – unter diesem Titel hatte bereits in 2018 auch die Initiative „Armut durch Pflege“ im Deutschlandfunk auf solche Problemlagen hingewiesen.
Im Zusammenhang mit dem Rechtsgutachten „Diskriminierungsschutz von Fürsorgeleistenden – Caregiver Discrimination“ von Prof. Dr. Gregor Thüsing und Lena Bleckmann kommt die Antidiskriminierungsstelle zu der Handlungsempfehlung, gesetzliche Schutzlücken zu schließen. „Familiäre Fürsorge“ sollte als Diskriminierungsgrund in § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes aufgenommen werden. Damit könnten einerseits Anforderungen von EU-Richtlinien Anwendung finden. Andererseits würden Fürsorgeleistende von den Rücksichtnahmepflichten des Diskriminierungsschutzes am Arbeitsplatz profitieren.
Neben Gesetzesänderungen fokussiert die Studie auch Vorschläge für betriebliche Maßnahmen, mit denen Unternehmen zur Verhinderung und Beseitigung von Diskriminierung beitragen und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben weiter verbessern können. Hierzu gehören Schulungen insbesondere für Personalverantwortliche und Führungskräfte, um Geschlechterstereotype zu hinterfragen, für die Situation von fürsorgenden Erwerbstätigen zu sensibilisieren und damit Tabus aufzubrechen.
Als präventive Maßnahme empfiehlt die Antidiskriminierungsstelle insbesondere, dass es im Betrieb bekannte und erreichbare Ansprechpersonen gibt, die zu internen und externen Unterstützungsmöglichkeiten beraten sowie auch im Falle von Diskriminierung vertraulich ansprechbar sind. Solche Anlaufstellen hat die Hessischen Initiative "Beruf und Pflege vereinbaren" als Pflege-Guides in hessischen Unternehmen bereits eingeführt.
Einmal im Jahr findet die feierliche Unterzeichnung und die Verleihung der "Charta zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege" durch den Hessischen Sozialminister statt. In diesem Jahr wird die Charta zum 10. Mal verliehen, am 20. Oktober 2022 im Haus der Wirtschaft in Frankfurt am Main.
Den Charta-Unternehmen stehen Netzwerkwerktreffen, Fachveranstaltungen, Qualifizierungen und Kompetenztrainings offen, und sie können die Materialien, Umsetzungsangebote und das Webportal www.berufundpflege.hessen.de nutzen.
Interessierte Unternehmen können noch beitreten. Informationen erhalten Sie hier.
Über 3.000 Befragte zu ihren Diskriminierungserfahrungen
Für die im Mai 2022 veröffentlichte Studie zu Diskriminierungserfahrungen von fürsorgenden Erwerbstätigen wurden 2.500 Eltern mit Kindern unter sieben Jahren sowie 504 Personen, die Angehörige pflegen, befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass Diskriminierungserfahrungen am Arbeitsplatz wegen Fürsorgeleistungen für Kinder oder pflegebedürftige Angehörige weit verbreitet sind.
Pflege explizit in den Blick genommen
Pflegende Angehörige standen in der Vergangenheit bei Fragen der Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit als Eltern mit ihren Kinderbetreuungsaufgaben. Aufgrund der Altersstruktur unserer Bevölkerung und mit Blick auf die Pflegestatistik hat die Studie daher pflegende Erwerbstätige bewusst mit aufgenommen. 2007 wurden noch 68 % der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt; 2017 waren es schon 76 %, Tendenz steigend. Außerdem gehen die Autor*innen davon aus, dass Pflegeaufgaben häufig einem Tabu unterliegen und ein offener Dialog am Arbeitsplatz noch selten stattfindet.
Ebenfalls vor diesem Hintergrund wurde übrigens in Hessen bereits 2013 unter Beteiligung der berufundfamilie Service GmbH die Initiative „Beruf und Pflege vereinbaren“ ins Leben gerufen (s.u.).
Großer bis überwiegender Teil der Caregiver erlebt Diskriminierung
Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Elternpflichten sind der Studie nach immer noch am weitesten verbreitet. Besonders die Rückkehr an den Arbeitsplatz nach der Elternzeit ist eine sensible Phase. Fast zwei Drittel, 62 % der Eltern, machen in dem Zeitraum negative Erfahrungen, die Mütter mit 69 % gegenüber Vätern mit 48 % deutlich mehr. Auch schon während der Schwangerschaft geben 56 % der Befragten Eltern an, Diskriminierung erlebt zu haben (Mütter 72 %, Väter 44 %).
Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Pflege
Aber auch unter den pflegenden Angehörigen berichten mit 48 % fast die Hälfte von Diskriminierungserfahrungen am Arbeitsplatz. Interessanterweise fühlen sich in vielen Bereichen die Männer stärker betroffen als die Frauen. Zum Beispiel gaben 18 % der befragten Männer und 12 % der Frauen an, dass ihre Kolleg*innen ihnen weniger zugetraut haben. 17 % der Männer gegenüber 15 % der Frauen beklagen zudem Gehaltseinbußen.
Eine Erklärung für diese Geschlechterdifferenz sehen die Autor*innen in den klassischen Rollenzuweisungen, wonach Fürsorgearbeit noch immer dem männlichen Rollenbild widerspricht. Ein weiterer Zusammenhang könnte in der höheren Erwerbstätigkeit unter pflegenden Männern liegen. Während die häusliche Pflege mehrheitlich in Frauenhand ist, und 30 % der Pflegenden bereits in Rente ist, arbeiten weitere 30 % in Vollzeit, und in dieser Gruppe sind Männer deutlich stärker vertreten als Frauen. Insofern könnten Konflikte am Arbeitsplatz für Männer eine größere Rolle spielen.
Wie fühlt sich Diskriminierung für Caregiver an?
Die konkrete Diskriminierung, die Caregiver erleben, wird in der Studie unterteilt nach Formen sozialer Herabwürdigung und Formen materieller Benachteiligung.
Soziale Herabwürdigung erleben Caregiver zum Beispiel durch die Erfahrung, dass Vorgesetzte oder Kolleg*innen ihnen weniger zutrauen, dass ihnen wichtige Informationen oder Entscheidungen vorenthalten werden, dass bei der Terminierung von Besprechungen keine Rücksicht genommen wird, bis hin zu Mobbing-Erfahrungen.
Zu den materiellen Benachteiligungen zählen beispielsweise die Zuteilung anspruchsloser oder sinnloser Aufgaben, schlechtere Leistungsbewertung oder das Ausbleiben von Gehaltserhöhungen. Das kann sogar bis zum Arbeitsplatzverlust gehen. „Pflege von Angehörigen macht arm“ – unter diesem Titel hatte bereits in 2018 auch die Initiative „Armut durch Pflege“ im Deutschlandfunk auf solche Problemlagen hingewiesen.
Fazit: Besserer Diskriminierungsschutz und betriebliche Maßnahmen
Im Zusammenhang mit dem Rechtsgutachten „Diskriminierungsschutz von Fürsorgeleistenden – Caregiver Discrimination“ von Prof. Dr. Gregor Thüsing und Lena Bleckmann kommt die Antidiskriminierungsstelle zu der Handlungsempfehlung, gesetzliche Schutzlücken zu schließen. „Familiäre Fürsorge“ sollte als Diskriminierungsgrund in § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes aufgenommen werden. Damit könnten einerseits Anforderungen von EU-Richtlinien Anwendung finden. Andererseits würden Fürsorgeleistende von den Rücksichtnahmepflichten des Diskriminierungsschutzes am Arbeitsplatz profitieren.
Neben Gesetzesänderungen fokussiert die Studie auch Vorschläge für betriebliche Maßnahmen, mit denen Unternehmen zur Verhinderung und Beseitigung von Diskriminierung beitragen und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben weiter verbessern können. Hierzu gehören Schulungen insbesondere für Personalverantwortliche und Führungskräfte, um Geschlechterstereotype zu hinterfragen, für die Situation von fürsorgenden Erwerbstätigen zu sensibilisieren und damit Tabus aufzubrechen.
Als präventive Maßnahme empfiehlt die Antidiskriminierungsstelle insbesondere, dass es im Betrieb bekannte und erreichbare Ansprechpersonen gibt, die zu internen und externen Unterstützungsmöglichkeiten beraten sowie auch im Falle von Diskriminierung vertraulich ansprechbar sind. Solche Anlaufstellen hat die Hessischen Initiative "Beruf und Pflege vereinbaren" als Pflege-Guides in hessischen Unternehmen bereits eingeführt.
Organisationen im Fokus: Hessische Initiative „Beruf und Pflege vereinbaren“
Was können Unternehmen selbst tun, um eine vereinbarkeitssensible Firmenkultur zu gestalten? Hierzu haben das Hessische Ministerium für Soziales und Integration gemeinsam mit der AOK Hessen, der berufundfamilie Service GmbH und dem Bildungswerk der Hessischen Wirtschaft e. V. schon in 2013 die Hessische Initiative „Beruf und Pflege vereinbaren“ ins Leben gerufen. Vom kleinen Handwerksbetrieb bis zum Großbetrieb sind bereits 281 Organisationen mit über 300.000 Mitarbeitenden in Hessen der Initiative beigetreten. Sie bekennen sich dazu, für die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege zu sensibilisieren, und sie beteiligen sich an der Entwicklung tragfähiger Vereinbarkeitslösungen, die pflegenden Beschäftigten sowie Arbeitgeber*innen gleichermaßen gerecht werden.
Chartaverleihung zum 10. Mal
Einmal im Jahr findet die feierliche Unterzeichnung und die Verleihung der "Charta zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege" durch den Hessischen Sozialminister statt. In diesem Jahr wird die Charta zum 10. Mal verliehen, am 20. Oktober 2022 im Haus der Wirtschaft in Frankfurt am Main.
Den Charta-Unternehmen stehen Netzwerkwerktreffen, Fachveranstaltungen, Qualifizierungen und Kompetenztrainings offen, und sie können die Materialien, Umsetzungsangebote und das Webportal www.berufundpflege.hessen.de nutzen.
Interessierte Unternehmen können noch beitreten. Informationen erhalten Sie hier.
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