Die Individualisierung prägt als Megatrend seit Jahren die Personalpolitik. Vor über einer Dekade untersuchten wir mit unserer Studie „Vereinbarkeit 2020“ ihren Einfluss auf Entscheidungen bzgl. der Work-Life-Balance. Warum das Stichwort „Lebensentwürfe“ in diesem Zusammenhang wichtig ist und was eine individualisierte Personalpolitik heute ausmacht, verrät uns unsere Auditorin Birgit Weinmann im folgenden praxisorientierten Interview.
Welche der wesentlichen Befunde der Studie „Vereinbarkeit 2020“ konnten bislang in die Praxis überführt werden? Wie sieht es mit der „individualisierten Personalpolitik“ heute aus? Darüber gibt eine berufundfamilie-Kollegin Auskunft, die die Studie „Vereinbarkeit 2020“ mitkonzipierte und eng begleitete: Birgit Weinmann. Birgit ist Diplom-Psychologin, Personal- und Organisationsentwicklerin, Expertin für Diversity Management und seit 2007 als Auditorin für das audit berufundfamilie tätig.
Birgit, 10 Jahre Studie „Vereinbarkeit 2020“ – Welche Gedanken kommen Dir dazu spontan?
Das Thema ist auch für die „Vereinbarkeit 2025“ immer noch hochaktuell. Dahinter steht der Megatrend Individualisierung. Dies zeigte der globale Workforce-Report Trendreport der ManpowerGroup 2024 ebenfalls auf. Zu den wesentlichen Trends zählt die „Me Economy“.[1] Damit ist gemeint, Arbeitnehmende erwarten, dass die Arbeitswelt sich an ihre individuellen Bedürfnisse anpasst. Work-Life-Balance steht weiterhin ganz oben auf der Prioritätenliste. Kurz gesagt: Der Job muss zu meinem Leben passen, nicht umgekehrt.
Die Studie „Vereinbarkeit 2020“ nimmt in diesem Zusammenhang insbesondere Lebensentwürfe in den Blick. Was ist eigentlich unter „Lebensentwurf“ zu verstehen?
Das Arbeitsumfeld sowie die Berufs- und Lebensphasen standen bis dahin als Eckpfeiler der familien- und lebensphasenbewussten Personalpolitik bereits im Fokus. Die Hypothese war, dass Arbeitgeber zukünftig auch die Lebensentwürfe und Lebensstile ihrer Beschäftigten berücksichtigen müssen.
Der Studie lag dafür ein soziologisches Verständnis sowie folgende Definition zugrunde: Ein Lebensentwurf wird durch das Lebensalter, die Berufstätigkeit, die soziale Schicht sowie die familiäre Situation beeinflusst. Er beschreibt das Verhalten der Menschen in Bezug darauf, wie sie ihren Alltag gestalten und organisieren. Hierzu gehören beispielsweise Freizeitverhalten, Formen der Geselligkeit, Mediennutzung, Wertorientierungen, Einstellungen, Haltungen und Wahrnehmungen der Umwelt.
Was war das zentrale Ergebnis der Studie?
Die Studie ergab: Alle wollen Vereinbarkeit, auch Menschen ohne Kinderbetreuungs- und Pflegeaufgaben im engeren Sinne. Diese Gruppe fühlte sich aber wenig als Zielgruppe der familienbewussten Personalpolitik wahrgenommen und hatte den Eindruck, dass Vereinbarkeit im Unternehmen vor allem für Mütter gelte, dann für Pflegende, wenig für Väter, kaum für Beschäftigte in schwierigen Lebenssituationen und nahezu verschwindend gering für Beschäftigte mit anderen Familienaufgaben im erweiterten Sinn, z.B. Enkelkinder, enge Freund*innen.
Es konnten drei Lebensentwurf-Cluster identifiziert werden:
Schon 2014 – als die Befragung durchgeführt wurde – war bei Beschäftigten der Wunsch nach mehr Flexibilität deutlich: Home-Office wurde als sehr wichtig eingeordnet, Langzeitarbeitskonten für flexiblen Ausstieg, längere Urlaubszeiten bei Teilzeitmodellen sowie flexiblere Karrierewege wurden als zentrale Bedürfnisse genannt. Diese Entwicklung setzte sich in den Folgejahren verstärkt fort.
Die gute Nachricht daran ist: Viele dieser Maßnahmen, insbesondere zur Flexibilität, sind gruppenübergreifend attraktiv, weil sie Handlungsspielräume und Optionen bieten, um viele individuelle Lösungen zu gestalten.
Worin liegen die konkreten Vorteile bei der Berücksichtigung von Lebensentwürfen sowohl für den Arbeitgeber als auch für die Beschäftigten?
Zunächst in der höheren Arbeitgeberattraktivität. Wir sind noch in der Situation, dass qualifizierte Fachkräfte eine sehr hohe Wahlfreiheit bezüglich ihres Arbeitgebers haben. Ein Arbeitsumfeld, in dem Mitarbeitende sie selbst sein können – mit all ihren Facetten –, sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit einbringen und entfalten können, ist attraktiv. Deshalb „boomt“ die Individualisierung, insbesondere bei der Mitarbeitendengewinnung.
Mit der Berücksichtigung der Lebensentwürfe werden vielfältige Perspektiven in die Organisation eingebracht. Daran wächst die Organisation; ihre Flexibilität erhöht sich. Das Unternehmen kann besser auf veränderte Bedingungen reagieren.
Hast Du ein Beispiel dafür, wie Lebensentwürfe die Wünsche bzgl. Vereinbarkeitslösungen unterschiedlich beeinflussen können?
Nehmen wir einige fiktive Beispiele.
Clarissa: Sie legt großen Wert auf ihre persönliche Freizeitgestaltung. Sie wünscht sich die Flexibilität, gelegentlich längere Reisen zu unternehmen. Für sie könnte die Option auf ein Sabbatical interessant sein.
Eylin: Sie ist karriereorientiert. Sie hat zwei Kinder und möchte Vollzeit und Familie miteinander vereinbaren, braucht eine hohe Flexibilität – zeitlich und örtlich – und will bei der Kinderbetreuung vom Arbeitgeber unterstützt werden.
Leart: Er möchte vier Tage in der Woche arbeiten und sich einen Tag ehrenamtlich engagieren oder seinen Hobbys widmen.
Man könnte die Aufzählung beliebig fortsetzen. Alle werden Beispiele aus ihrem Umfeld kennen.
Im Prinzip ist das Thema nichts komplett Neues. Neu ist, dass gesellschaftlich vielfältige Lebensentwürfe stärker akzeptiert werden, individuelle Vorstellungen mehr Verständnis finden und „durchsetzbar“ sind.
Wie können Personalverantwortliche die unterschiedlichen Lebensentwürfe der einzelnen Beschäftigten erkennen?
Es braucht das persönliche Gespräch zwischen der Führungskraft und den jeweiligen Mitarbeitenden. Das sollte strukturiert ablaufen. Dafür muss man Zeit investieren, genauso wie für die dazugehörigen Aushandlungsprozesse im Team. Sinnvoll werden die Lösungen erst, wenn die individuellen Bedürfnisse, die von dem jeweiligen Lebensentwurf mitgeprägt sind, mit den betrieblichen Anforderungen und den Belangen des Teams in Balance gebracht werden können.
Interessanter ist aber die Frage: Kann man es sich leisten, nicht auf individuelle Lebensentwürfe einzugehen?
Was ist bei der Aushandlung von Vereinbarkeitslösungen sonst noch zu beachten?
Es ist leicht nachvollziehbar, dass nicht alle Wünsche und Bedürfnisse berücksichtigt werden können. Zunächst: Rechtliche Vorgaben sind nicht verhandelbar. Sie setzen den Rahmen, innerhalb dessen individuelle Vereinbarungen gestaltet werden können. Dazu kommen die Fragen der finanziellen und betrieblichen Machbarkeit und zur Fairness im Team, die zu beantworten sind.
Betriebswirtschaftlich ist festzuhalten: Es muss das organisationsspezifische Optimum bei der Gestaltung von Homogenität und Heterogenität gefunden werden.
Regel Nummer 1 ist bei alldem jedoch, Lebensentwürfe in diesem Prozess nicht zu bewerten. Die individuellen Wünsche zur Lebensgestaltung sind zu respektieren. Die Rolle der Personalpolitik ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, die auf Machbarkeit und Fairness basieren - nicht darauf, welche Lebensentwürfe für „geeigneter“ gehalten werden.
Individuelle Vereinbarkeitswünsche zu berücksichtigen, bedeutet also nicht, dass jeder Wunsch eins zu eins erfüllt wird?
Ganz genau! Die Umsetzung muss im Kontext des Unternehmens, seiner Werte und des Teams funktionieren. Es geht um Ausgewogenheit und Lösungen, die für alle tragfähig sind.
Aber Individualisierung und Gemeinsinn sind kein Widerspruch. Die Beteiligten sollten sich stets klar darüber sein: Arbeitsteilung führt immer zu wechselseitigen Abhängigkeiten. Genau da treffen sich Individualität und Gemeinsinn.[2]
Ist diese Art der individualisierten Personal- und Vereinbarkeitspolitik in Unternehmen wirklich angekommen? Was hat sich positiv entwickelt? Wo gibt es noch Potenzial nach oben?
Die Unternehmen haben die Rahmenbedingungen weiterentwickelt und das Vereinbarkeitsverständnis ist heute eindeutig erweitert – bis hin zum Ehrenamt und zur Verantwortung für Haustiere. Zur zeitlichen Flexibilität ist die örtliche hinzugekommen, auch das zeitweise Arbeiten im Ausland wird von Unternehmen inzwischen ermöglicht.
Manchmal stellt sich eher die Frage, wie man mit den Herausforderungen und Grenzen einer solchen Politik umgeht. Wie transparent sind die Leitplanken für die betriebsspezifische „Me-Economy“ und werden sie solche überhaupt thematisiert?
Was die Maßnahmen betrifft: Es gibt immer Luft nach oben! In Sachen flexibler Arbeitsorganisation hat sich in den letzten Jahren viel getan. Aber manche Modelle, wie zum Beispiel Job-Sharing, stagnieren. Sabbaticals sind aufgrund des Fachkräftemangels häufig schwierig. Nicht wirklich weiter ist man bei der 4-Tage-Woche, die kontrovers diskutiert wird. Bei der Schichtarbeit ist den Beschäftigten Verlässlichkeit wichtiger als die Flexibilität[3] und bleibt eine Herausforderung.
Teilzeit- und Vollzeitarbeit sind in Deutschland weiterhin stark getrennt. Ein Wechsel zurück in Vollzeit ist selten. „Mehr Durchlässigkeit und selbstbestimmte Arbeitszeitgestaltung könnten verhindern, dass Teilzeit zur beruflichen Sackgasse wird“.[4] Insgesamt bleibt definitiv noch Spielraum – für Innovation grundsätzlich und zur Erprobung im Besonderen!
Welche Tipps möchtest Du Arbeitgebern mit auf den Weg geben, die Lebensentwürfe stärker in ihre Personalpolitik integrieren möchten? Was sind die Erfolgsfaktoren?
Es reicht nicht, einfach nur darauf zu reagieren, was sich Mitarbeitende wünschen. Vielmehr sollte das Thema von Anfang an strategisch mitgedacht werden als Vielfaltsdimension, die es aktiv zu gestalten und zu managen gilt.
Kostenfreier Abruf der Ergebnisse der Studie „Vereinbarkeit 2020“
Wer an dem Thesenpapier, dem Ergebnisbericht und dem White Paper zur Studie „Vereinbarkeit 2020“ interessiert ist, kann die Materialien über das hier hinterlegte Formular kostenfrei anfordern.
[1] Arbeitsmarkttrends 2024: „Me Economy“, Vier-Tage-Woche und der Einsatz von KI; https://www.manpowergroup.de/-/media/project/manpowergroup/manpowergroup/manpowergroup-germany/pressemitteilungen/20240419_pm_mpg_age_of_adaptability_2024_workforce_trends.pdf, 12.02.2025
[2] Vgl. Mirja Eckert, Eike Wenzel, Torge Lars Rosenburg (2022): bei Z3 – Zukunft zum Zuhören (Podcast), FOLGE 28: Megatrend Individualisierung; https://zukunft-zum-zuhoeren-z-hoch-drei.podigee.io/28-new-episode , 12.02.2025
[3] Bertelsmann-Stiftung (2024): Teilzeit verliert, Zeitsouveränität gewinnt: Beschäftigte wollen flexible Arbeitszeiten“ https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2024/august/teilzeit-verliert-zeitsouveraenitaet-gewinnt-beschaeftigte-wollen-flexible-arbeitszeiten, 12.02.2025
[4] Wanger, Susanne, Weber, Enzo (2023): IAB-Forschungsbericht – Arbeitszeit: Trends, Wunsch und Wirklichkeit, Ausg. 16/2023, S. 31; https://doku.iab.de/forschungsbericht/2023/fb1623.pdf, 12.02.2025
[5] Hesse, Claudia et al. (2024): Wie Führungskräfte effektiv Inklusion und Kreativität in diversen Teams fördern können. Personal quarterly 01/2024, S. 18-25
„Vereinbarkeit 2020“ – unter diesem Titel steht die Studie, die die berufundfamilie vor über 10 Jahren in Zusammenarbeit mit dem Institut für Beschäftigung und Employability (IBE) an der Hochschule Ludwigshafen durchführte. Erstmalig fokussierte diese explorative Untersuchung auf die Relevanz von Lebensentwürfen im Kontext der Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben. Sie bietet noch heute Evidenz für die Erkenntnis: Es braucht eine Personalpolitik, die die individuellen Bedürfnisse der Beschäftigten stärker in den Blick nimmt. Der Ansatz der individualisierten Personalpolitik legt einen wichtigen Grundstein für unsere Arbeit – nämlich die Begleitung von Organisationen beim Auf- und Ausbau einer systematischen familien- und lebensphasenbewussten sowie ggf. vielfaltsbewussten Personalpolitik.
Welche der wesentlichen Befunde der Studie „Vereinbarkeit 2020“ konnten bislang in die Praxis überführt werden? Wie sieht es mit der „individualisierten Personalpolitik“ heute aus? Darüber gibt eine berufundfamilie-Kollegin Auskunft, die die Studie „Vereinbarkeit 2020“ mitkonzipierte und eng begleitete: Birgit Weinmann. Birgit ist Diplom-Psychologin, Personal- und Organisationsentwicklerin, Expertin für Diversity Management und seit 2007 als Auditorin für das audit berufundfamilie tätig.
Birgit, 10 Jahre Studie „Vereinbarkeit 2020“ – Welche Gedanken kommen Dir dazu spontan?
Das Thema ist auch für die „Vereinbarkeit 2025“ immer noch hochaktuell. Dahinter steht der Megatrend Individualisierung. Dies zeigte der globale Workforce-Report Trendreport der ManpowerGroup 2024 ebenfalls auf. Zu den wesentlichen Trends zählt die „Me Economy“.[1] Damit ist gemeint, Arbeitnehmende erwarten, dass die Arbeitswelt sich an ihre individuellen Bedürfnisse anpasst. Work-Life-Balance steht weiterhin ganz oben auf der Prioritätenliste. Kurz gesagt: Der Job muss zu meinem Leben passen, nicht umgekehrt.
Die Studie „Vereinbarkeit 2020“ nimmt in diesem Zusammenhang insbesondere Lebensentwürfe in den Blick. Was ist eigentlich unter „Lebensentwurf“ zu verstehen?
Das Arbeitsumfeld sowie die Berufs- und Lebensphasen standen bis dahin als Eckpfeiler der familien- und lebensphasenbewussten Personalpolitik bereits im Fokus. Die Hypothese war, dass Arbeitgeber zukünftig auch die Lebensentwürfe und Lebensstile ihrer Beschäftigten berücksichtigen müssen.
Der Studie lag dafür ein soziologisches Verständnis sowie folgende Definition zugrunde: Ein Lebensentwurf wird durch das Lebensalter, die Berufstätigkeit, die soziale Schicht sowie die familiäre Situation beeinflusst. Er beschreibt das Verhalten der Menschen in Bezug darauf, wie sie ihren Alltag gestalten und organisieren. Hierzu gehören beispielsweise Freizeitverhalten, Formen der Geselligkeit, Mediennutzung, Wertorientierungen, Einstellungen, Haltungen und Wahrnehmungen der Umwelt.
Was war das zentrale Ergebnis der Studie?
Die Studie ergab: Alle wollen Vereinbarkeit, auch Menschen ohne Kinderbetreuungs- und Pflegeaufgaben im engeren Sinne. Diese Gruppe fühlte sich aber wenig als Zielgruppe der familienbewussten Personalpolitik wahrgenommen und hatte den Eindruck, dass Vereinbarkeit im Unternehmen vor allem für Mütter gelte, dann für Pflegende, wenig für Väter, kaum für Beschäftigte in schwierigen Lebenssituationen und nahezu verschwindend gering für Beschäftigte mit anderen Familienaufgaben im erweiterten Sinn, z.B. Enkelkinder, enge Freund*innen.
Es konnten drei Lebensentwurf-Cluster identifiziert werden:
- Cluster A: Die größte Gruppe legt den höchsten Wert auf flexible Arbeitszeitmodelle und Gestaltungsspielräume im Privatleben. Ihnen ist die Balance zwischen Beruf und Privatleben am wichtigsten, gleichzeitig sind sie an einer persönlichen Weiterentwicklung interessiert.
- Cluster B: Hier sind Führungskräfte überrepräsentiert. Diese Gruppe priorisiert Entwicklungsmöglichkeiten, leistungsgerechte Vergütung und die Förderung von Vätern. Karriere hat für sie höchste Priorität, aber auch sie wollen private Belange berücksichtigt wissen.
- Cluster C: In diesem Cluster finden sich viele Beschäftigte ohne konkrete Familienaufgaben. Sie empfinden das Betriebsklima in Bezug auf die Vereinbarkeit als weniger gut im Vergleich zu den ersten beiden Gruppen.
Schon 2014 – als die Befragung durchgeführt wurde – war bei Beschäftigten der Wunsch nach mehr Flexibilität deutlich: Home-Office wurde als sehr wichtig eingeordnet, Langzeitarbeitskonten für flexiblen Ausstieg, längere Urlaubszeiten bei Teilzeitmodellen sowie flexiblere Karrierewege wurden als zentrale Bedürfnisse genannt. Diese Entwicklung setzte sich in den Folgejahren verstärkt fort.
Die gute Nachricht daran ist: Viele dieser Maßnahmen, insbesondere zur Flexibilität, sind gruppenübergreifend attraktiv, weil sie Handlungsspielräume und Optionen bieten, um viele individuelle Lösungen zu gestalten.
Worin liegen die konkreten Vorteile bei der Berücksichtigung von Lebensentwürfen sowohl für den Arbeitgeber als auch für die Beschäftigten?
Zunächst in der höheren Arbeitgeberattraktivität. Wir sind noch in der Situation, dass qualifizierte Fachkräfte eine sehr hohe Wahlfreiheit bezüglich ihres Arbeitgebers haben. Ein Arbeitsumfeld, in dem Mitarbeitende sie selbst sein können – mit all ihren Facetten –, sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit einbringen und entfalten können, ist attraktiv. Deshalb „boomt“ die Individualisierung, insbesondere bei der Mitarbeitendengewinnung.
Mit der Berücksichtigung der Lebensentwürfe werden vielfältige Perspektiven in die Organisation eingebracht. Daran wächst die Organisation; ihre Flexibilität erhöht sich. Das Unternehmen kann besser auf veränderte Bedingungen reagieren.
Hast Du ein Beispiel dafür, wie Lebensentwürfe die Wünsche bzgl. Vereinbarkeitslösungen unterschiedlich beeinflussen können?
Nehmen wir einige fiktive Beispiele.
Clarissa: Sie legt großen Wert auf ihre persönliche Freizeitgestaltung. Sie wünscht sich die Flexibilität, gelegentlich längere Reisen zu unternehmen. Für sie könnte die Option auf ein Sabbatical interessant sein.
Eylin: Sie ist karriereorientiert. Sie hat zwei Kinder und möchte Vollzeit und Familie miteinander vereinbaren, braucht eine hohe Flexibilität – zeitlich und örtlich – und will bei der Kinderbetreuung vom Arbeitgeber unterstützt werden.
Leart: Er möchte vier Tage in der Woche arbeiten und sich einen Tag ehrenamtlich engagieren oder seinen Hobbys widmen.
Man könnte die Aufzählung beliebig fortsetzen. Alle werden Beispiele aus ihrem Umfeld kennen.
Im Prinzip ist das Thema nichts komplett Neues. Neu ist, dass gesellschaftlich vielfältige Lebensentwürfe stärker akzeptiert werden, individuelle Vorstellungen mehr Verständnis finden und „durchsetzbar“ sind.
Wie können Personalverantwortliche die unterschiedlichen Lebensentwürfe der einzelnen Beschäftigten erkennen?
Es braucht das persönliche Gespräch zwischen der Führungskraft und den jeweiligen Mitarbeitenden. Das sollte strukturiert ablaufen. Dafür muss man Zeit investieren, genauso wie für die dazugehörigen Aushandlungsprozesse im Team. Sinnvoll werden die Lösungen erst, wenn die individuellen Bedürfnisse, die von dem jeweiligen Lebensentwurf mitgeprägt sind, mit den betrieblichen Anforderungen und den Belangen des Teams in Balance gebracht werden können.
Interessanter ist aber die Frage: Kann man es sich leisten, nicht auf individuelle Lebensentwürfe einzugehen?
Was ist bei der Aushandlung von Vereinbarkeitslösungen sonst noch zu beachten?
Es ist leicht nachvollziehbar, dass nicht alle Wünsche und Bedürfnisse berücksichtigt werden können. Zunächst: Rechtliche Vorgaben sind nicht verhandelbar. Sie setzen den Rahmen, innerhalb dessen individuelle Vereinbarungen gestaltet werden können. Dazu kommen die Fragen der finanziellen und betrieblichen Machbarkeit und zur Fairness im Team, die zu beantworten sind.
Betriebswirtschaftlich ist festzuhalten: Es muss das organisationsspezifische Optimum bei der Gestaltung von Homogenität und Heterogenität gefunden werden.
Regel Nummer 1 ist bei alldem jedoch, Lebensentwürfe in diesem Prozess nicht zu bewerten. Die individuellen Wünsche zur Lebensgestaltung sind zu respektieren. Die Rolle der Personalpolitik ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, die auf Machbarkeit und Fairness basieren - nicht darauf, welche Lebensentwürfe für „geeigneter“ gehalten werden.
Individuelle Vereinbarkeitswünsche zu berücksichtigen, bedeutet also nicht, dass jeder Wunsch eins zu eins erfüllt wird?
Ganz genau! Die Umsetzung muss im Kontext des Unternehmens, seiner Werte und des Teams funktionieren. Es geht um Ausgewogenheit und Lösungen, die für alle tragfähig sind.
Aber Individualisierung und Gemeinsinn sind kein Widerspruch. Die Beteiligten sollten sich stets klar darüber sein: Arbeitsteilung führt immer zu wechselseitigen Abhängigkeiten. Genau da treffen sich Individualität und Gemeinsinn.[2]
Ist diese Art der individualisierten Personal- und Vereinbarkeitspolitik in Unternehmen wirklich angekommen? Was hat sich positiv entwickelt? Wo gibt es noch Potenzial nach oben?
Die Unternehmen haben die Rahmenbedingungen weiterentwickelt und das Vereinbarkeitsverständnis ist heute eindeutig erweitert – bis hin zum Ehrenamt und zur Verantwortung für Haustiere. Zur zeitlichen Flexibilität ist die örtliche hinzugekommen, auch das zeitweise Arbeiten im Ausland wird von Unternehmen inzwischen ermöglicht.
Manchmal stellt sich eher die Frage, wie man mit den Herausforderungen und Grenzen einer solchen Politik umgeht. Wie transparent sind die Leitplanken für die betriebsspezifische „Me-Economy“ und werden sie solche überhaupt thematisiert?
Was die Maßnahmen betrifft: Es gibt immer Luft nach oben! In Sachen flexibler Arbeitsorganisation hat sich in den letzten Jahren viel getan. Aber manche Modelle, wie zum Beispiel Job-Sharing, stagnieren. Sabbaticals sind aufgrund des Fachkräftemangels häufig schwierig. Nicht wirklich weiter ist man bei der 4-Tage-Woche, die kontrovers diskutiert wird. Bei der Schichtarbeit ist den Beschäftigten Verlässlichkeit wichtiger als die Flexibilität[3] und bleibt eine Herausforderung.
Teilzeit- und Vollzeitarbeit sind in Deutschland weiterhin stark getrennt. Ein Wechsel zurück in Vollzeit ist selten. „Mehr Durchlässigkeit und selbstbestimmte Arbeitszeitgestaltung könnten verhindern, dass Teilzeit zur beruflichen Sackgasse wird“.[4] Insgesamt bleibt definitiv noch Spielraum – für Innovation grundsätzlich und zur Erprobung im Besonderen!
Welche Tipps möchtest Du Arbeitgebern mit auf den Weg geben, die Lebensentwürfe stärker in ihre Personalpolitik integrieren möchten? Was sind die Erfolgsfaktoren?
Es reicht nicht, einfach nur darauf zu reagieren, was sich Mitarbeitende wünschen. Vielmehr sollte das Thema von Anfang an strategisch mitgedacht werden als Vielfaltsdimension, die es aktiv zu gestalten und zu managen gilt.
- Unternehmenskultur ausrichten: Heterogene Lebensentwürfe sind Realität, ebenso die gestiegene Erwartung, den eigenen Lebensentwurf auch umsetzen zu können. Ein wertschätzendes Umfeld, das Individualität und Gemeinsinn verbindet, ist deshalb die Basis für eine erfolgreiche Vereinbarkeit.
- Reden, zuhören, verstehen: Offene Gespräche zwischen Arbeitgebern und Mitarbeitenden helfen, Bedürfnisse zu erkennen – aber auch Grenzen zu vermitteln. Diese verstehen Menschen übrigens, wenn sie nachvollziehbar vermittelt werden, sie vorher gehört und einbezogen werden.
- Karriere und Entwicklung neu denken: Lebenslanges Lernen und Entwicklung sind keine Schlagworte, sondern die Zukunft. Karriere- und Entwicklungsmöglichkeiten müssen individualisierter und flexibler werden sowie Phasen der „Be- und Entschleunigung von Karriere “ abbildbar sein, z.B. „Zweit-“ und „Drittkarrieren“. Durch die Digitalisierung wurden die individuellen Weiterbildungsmöglichkeiten erleichtert. Gleichzeitig steigt der Orientierungs- und Beratungsbedarf.
- Flexibilität gestalten: Home-Office ist gekommen, um zu bleiben, aber es gibt noch viele andere Möglichkeiten, z.B. Shared Leadership-Modelle, Sabbaticals, Langzeitarbeitskonten, selbstorganisierte Schichtarbeitsmodelle. Der Zeit- und der Leistungsdruck haben nicht abgenommen, das erfordert eine arbeitsorganisatorische Optimierung.
- Selbststeuerung und Erholung unterstützen: In einer dynamischen Arbeitswelt mit vielen Optionen sind Selbstmanagement und Erholungsfähigkeit zentrale Kompetenzen, die gezielt gefördert werden sollten.
- Fairness im Blick behalten: Regeln und Entscheidungsprozesse müssen transparent und nachvollziehbar sein. Es ist kontraproduktiv, wenn einige profitieren und andere das Gefühl haben, sie kommen zu kurz.
- Erwartungen realistisch halten: Jede Organisation hat finanzielle und organisatorische Grenzen.
- Führungskräfte fit machen: Um vielfältige Perspektiven auch für die Teamkreativität „ernten“ zu können, müssen Führungskräfte die „Wertschätzung für Diversity säen“, d.h. Teams darauf positiv einstimmen und ihnen die Vorteile vermitteln.[5] Die Führungskräftequalifizierung ist daher essentiell.
Kostenfreier Abruf der Ergebnisse der Studie „Vereinbarkeit 2020“
Wer an dem Thesenpapier, dem Ergebnisbericht und dem White Paper zur Studie „Vereinbarkeit 2020“ interessiert ist, kann die Materialien über das hier hinterlegte Formular kostenfrei anfordern.
[1] Arbeitsmarkttrends 2024: „Me Economy“, Vier-Tage-Woche und der Einsatz von KI; https://www.manpowergroup.de/-/media/project/manpowergroup/manpowergroup/manpowergroup-germany/pressemitteilungen/20240419_pm_mpg_age_of_adaptability_2024_workforce_trends.pdf, 12.02.2025
[2] Vgl. Mirja Eckert, Eike Wenzel, Torge Lars Rosenburg (2022): bei Z3 – Zukunft zum Zuhören (Podcast), FOLGE 28: Megatrend Individualisierung; https://zukunft-zum-zuhoeren-z-hoch-drei.podigee.io/28-new-episode , 12.02.2025
[3] Bertelsmann-Stiftung (2024): Teilzeit verliert, Zeitsouveränität gewinnt: Beschäftigte wollen flexible Arbeitszeiten“ https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2024/august/teilzeit-verliert-zeitsouveraenitaet-gewinnt-beschaeftigte-wollen-flexible-arbeitszeiten, 12.02.2025
[4] Wanger, Susanne, Weber, Enzo (2023): IAB-Forschungsbericht – Arbeitszeit: Trends, Wunsch und Wirklichkeit, Ausg. 16/2023, S. 31; https://doku.iab.de/forschungsbericht/2023/fb1623.pdf, 12.02.2025
[5] Hesse, Claudia et al. (2024): Wie Führungskräfte effektiv Inklusion und Kreativität in diversen Teams fördern können. Personal quarterly 01/2024, S. 18-25
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen